Das Zimmer der Elster war so groß, dass man darin hätte tanzen können. Die Wände waren rot wie die Wände in der Kirche, aber viel war nicht von ihnen zu sehen. Sie waren bedeckt mit Fotos in Goldrahmen, Fotos von Häusern und Menschen. Sie drängten sich an der Wand wie eine Menschenmenge auf einem zu engen Platz. In ihrer Mitte, goldgerahmt wie die anderen, aber um vieles größer, hing ein Porträt von Capricorn. Wer immer es gemalt hatte, er war ebenso wenig ein Meister seiner Kunst wie der, der die Statue in der Kirche angefertigt hatte. Capricorns Gesicht auf dem Bild war runder und weicher als in Wirklichkeit und sein seltsam weiblicher Mund saß wie eine fremde Frucht unter der etwas zu kurz und breit geratenen Nase. Nur seine Augen hatte der Maler genau getroffen. Ausdruckslos wie im wirklichen Leben blickten sie auf Meggie herab, wie die eines Mannes, der einen Frosch betrachtet, dem er den Leib aufschlitzen will, um zu sehen, wie sein Inneres beschaffen ist. Kein Gesicht, das hatte sie in Capricorns Dorf gelernt, ist furchterregender als eines ohne Mitleid.
Die Elster saß seltsam steif in einem samtig grünen Ohrensessel direkt unter dem Porträt ihres Sohnes. Sie saß da, als wäre sie es nicht gewohnt zu sitzen - wie eine Frau, für die es immer etwas zu tun gab und die die Ruhe mit Unbehagen erfüllte. Aber vielleicht zwang ihr Körper sie manchmal in diesen unförmigen Sessel, der viel zu gewaltig für sie schien - Meggie sah, dass die Beine der Alten über den Füßen geschwollen waren. Unförmig wölbten sie sich unter den spitzen Knien. Als sie ihren Blick bemerkte, zog die Elster sich den Rocksaum über die Knie.
»Hast du ihr gesagt, warum sie hier ist?« Das Aufstehen machte ihr Mühe. Meggie sah, wie sie sich mit der Hand auf ein Tischchen stützte und die Lippen aufeinander presste. Basta schien ihre Schwäche zu gefallen, ein Lächeln umspielte seine Lippen, bis die Elster ihn ansah und es mit einem einzigen eisigen Blick fortwischte. Ungeduldig winkte sie Meggie zu sich. Basta gab ihr einen Stoß in den Rücken, als sie sich nicht gleich in Bewegung setzte.
»Komm, ich will dir etwas zeigen.« Die Elster ging mit langsamen, aber festen Schritten zu einer Kommode, die viel zu schwer für ihre anmutig geschwungenen Beine zu sein schien. Auf der Kommode stand, zwischen zwei blassgelben Lampen, eine hölzerne Schatulle. Sie war ringsum verziert mit einem Muster aus winzigen Löchern.
Als die Elster den Deckel öffnete, fuhr Meggie zurück. Zwei Schlangen lagen in der Schatulle, dünn wie Eidechsen und kaum länger als Meggies Unterarm.
»Ich halte mein Zimmer immer schön warm, damit die beiden nicht zu schläfrig werden!«, erklärte die Elster, während sie die oberste Schublade der Kommode aufzog und einen Handschuh herausnahm. Er war aus festem schwarzem Leder und so steif, dass sie Mühe hatte, die schmale Hand hineinzuzwängen. »Dein Freund Staubfinger hat der armen Resa einen bösen Streich gespielt, als er ihr auftrug nach dem Buch zu suchen«, fuhr sie fort, während sie in die Schatulle fasste und eine der Schlangen mit festem Griff hinter dem flachen Kopf packte.
»Nun komm schon!«, fuhr sie Basta an und hielt ihm die sich windende Schlange hin. Meggie sah seinem Gesicht an, dass sich alles in ihm dagegen sträubte, aber er trat näher und nahm die Schlange entgegen. Weit von sich hielt er ihren schuppigen Leib, der sich wand und drehte.
»Du siehst, Basta mag meine Schlangen nicht!«, stellte die Elster mit einem Lächeln fest. »Er mochte sie noch nie, aber das heißt nicht viel. Soweit ich weiß, mag Basta überhaupt nichts außer seinem Messer. Zudem glaubt er, dass Schlangen Unglück bringen, was natürlich vollkommener Unsinn ist.« Mortola reichte Basta die zweite Schlange. Meggie sah die winzigen Giftzähne, als die Viper das Maul aufsperrte. Für einen Moment tat Basta ihr fast Leid.
»Nun, was sagst du? Ist das nicht ein gutes Versteck?«, fragte die Elster und griff ein drittes Mal in die Schatulle. Diesmal holte sie ein Buch heraus. Meggie hätte gewusst, um welches es sich handelte, selbst wenn sie den bunten Umschlag nicht wiedererkannt hätte. »Ich habe in dieser Schatulle schon oft wertvolle Dinge verwahrt«, fuhr die Elster fort. »Niemand weiß von ihr und ihrem Inhalt außer Basta und Capricorn. Die arme Resa hat in vielen Zimmern nach dem Buch gesucht, sie ist ein mutiges Ding, aber auf meine Schatulle ist sie nicht gekommen. Dabei mag sie Schlangen, ich kenne kaum jemanden, der so wenig Angst vor ihnen hat, obwohl sie schon mal gebissen wurde. Stimmt's, Basta?« Die Elster zog den Handschuh aus und warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Basta erschreckt Frauen, die ihn abweisen, gern mit einer Schlange. Bei Resa hatte er damit keinen Erfolg. Wie war das noch mal? Hat sie sie dir nicht vor die Tür gelegt, Basta?«
Basta schwieg. Die Schlangen ringelten sich immer noch in seinen Händen. Eine hatte den Schwanz um seinen Arm geschlungen.
»Leg sie wieder hinein!«, befahl die Elster ihm. »Aber sei vorsichtig.« Dann ging sie mit dem Buch zurück zu ihrem Sessel. »Setz dich!«, kommandierte sie und wies auf den Fußschemel, der neben dem Sessel stand.
Meggie gehorchte. Unauffällig sah sie sich um. Mortolas Zimmer kam ihr vor wie eine bis an den Rand gefüllte Schatzkiste. Von allem gab es zu viel - zu viele goldene Kerzenständer, zu viele Lampen, Teppiche, Bilder, zu viele Vasen, Porzellanfiguren, Seidenblumen, vergoldete Glöckchen.
Die Elster warf ihr einen spöttischen Blick zu. Wie ein Kuckuck saß sie da in ihrem schwarzen, unansehnlichen Kleid, der sich in das Nest eines anderen Vogels gedrängt hatte. »Ein prächtiges Zimmer für eine Magd, nicht wahr?«, stellte sie selbstzufrieden fest. »Capricorn weiß, was er an mir hat.«
»Er lässt dich im Keller wohnen!«, erwiderte Meggie. »Obwohl du seine Mutter bist.«
Warum kann man Worte nicht hinunterschlucken - sie einfangen und schnell wieder zwischen die Lippen schieben? Die Elster musterte sie mit solchem Hass, dass Meggie ihre knochigen Finger schon an der Kehle spürte. Aber Mortola saß nur da und blickte sie an mit ihren starren Vogelaugen. »Wer hat dir das erzählt? Der alte Hexer?«
Meggie presste die Lippen aufeinander und sah zu Basta hinüber. Vermutlich hatte er kein Wort mitbekommen, er legte gerade die zweite Schlange zurück in die Schatulle. Ob er von Capricorns kleinem Geheimnis wusste? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, legte Mortola ihr das Buch auf den Schoß.
»Ein Wort darüber zu irgendjemandem hier oder an einem anderen Ort«, zischte die Elster ihr zu, »und deine nächste Mahlzeit bereite ich höchstpersönlich zu. Etwas Eisenhutextrakt, ein paar Eibenspitzen oder vielleicht ein paar Schierlingssamen in die Soße, wie würde dir das schmecken? Glaub mir, das Essen würde dir gar nicht gut bekommen. Und jetzt fang an zu lesen.«
Meggie starrte auf das Buch in ihrem Schoß. Als Capricorn es hochgehalten hatte, damals in der Kirche, hatte sie das Bild auf dem Schutzumschlag nicht erkennen können. Nun hatte sie Gelegenheit, es sich aus der Nähe anzusehen. Den Hintergrund bildete eine Landschaft, die wie ein etwas verfremdetes Abbild der Hügel aussah, die Capricorns Dorf umgaben. Im Vordergrund aber sah man ein Herz, ein schwarzes Herz, umgeben von roten Flammen.
»Nun schlag es schon auf!«, fuhr die Elster sie an.
Meggie gehorchte - und schlug die Seite auf, die mit dem K begann, auf dem der gehörnte Marder hockte. Wie lange war es her, dass sie in Elinors Bibliothek gestanden und auf dieselbe Seite gestarrt hatte? Eine Ewigkeit, ein ganzes Leben?
»Das ist die falsche Seite. Blättre weiter!«, wies die Elster sie an. »Bis zu der Seite mit der eingeknickten Ecke.«