Meggie gehorchte wortlos. Auf der Seite war kein Bild, auch auf der gegenüberliegenden nicht. Ohne nachzudenken, strich sie die umgeknickte Ecke mit dem Daumennagel glatt. Mo hasste umgeknickte Buchseiten.
»Was soll das? Willst du, dass ich die Stelle nicht wiederfinde?«, spottete die Elster. »Fang mit dem zweiten Absatz an, aber untersteh dich, laut zu lesen. Ich habe keine Lust, den Schatten plötzlich in meinem Zimmer stehen zu sehen.«
»Und wie weit? Wie weit soll ich heute Abend lesen?«
»Was weiß ich?« Die Elster beugte sich vor und rieb sich das linke Bein. »Wie lange brauchst du denn für gewöhnlich, um sie herauszulocken, deine Feen und Zinnsoldaten und was sonst noch?«
Meggie senkte den Kopf. Arme Tinker Bell. »Das kann man nicht sagen«, murmelte sie. »Es ist ganz verschieden. Manchmal geht es schnell, manchmal passiert es erst nach vielen Seiten oder auch überhaupt nicht.«
»Nun, dann sieh dir das ganze Kapitel an, das wird ja wohl reichen! Und von >überhaupt nicht< will ich nichts hören!« Die Elster rieb sich das andere Bein. Beide waren umwickelt, man sah die Bandagen durch die dunklen Strümpfe, die sie trug. »Was guckst du so?«, fuhr sie Meggie an. »Kannst du mir dagegen etwas herbeilesen? Kennst du kleine Hexe vielleicht eine Geschichte, die ein Rezept gegen das Alter und den Tod hat?«
»Nein«, flüsterte Meggie.
»Nun, dann glotz nicht dumm, sondern guck in das Buch. Sieh dir jedes Wort an. Ich will heute Abend nicht ein einziges Stottern hören, kein Gestammel, keinen Versprecher, verstanden? Diesmal soll Capricorn genau das bekommen, was er will. Dafür werde ich sorgen.«
Meggie ließ die Augen über die Buchstaben wandern. Sie verstand kein Wort von dem, was sie las, sie konnte nur an Mo denken und an die Schüsse in der Nacht. Aber sie tat, als lese sie weiter, weiter und weiter, während Mortola sie nicht aus den Augen ließ. Schließlich hob sie den Kopf und klappte das Buch zu. »Fertig«, sagte sie.
»So schnell?« Die Elster sah sie ungläubig an.
Meggie antwortete nicht. Sie sah Basta an. Mit gelangweiltem Gesicht lehnte er an Mortolas Sessel. »Ich werde das heute Abend nicht lesen«, sagte sie. »Ihr habt meinen Vater erschossen, heute Nacht. Basta hat es mir gesagt. Kein Wort werd ich lesen.«
Die Elster drehte sich zu Basta um. »Was soll das?«, fragte sie ärgerlich. »Denkst du, die Kleine liest besser, wenn du ihr das dumme Herz brichst? Sag ihr, dass ihr ihn verfehlt habt, nun mach schon.«
Basta senkte den Blick wie ein Junge, den seine Mutter bei einem bösen Streich ertappt hat. »Ich hab's ihr doch gesagt«, knurrte er. »Cockerell kann nicht zielen. Nicht einen Kratzer hat ihr Vater abgekriegt.«
Meggie schloss vor Erleichterung die Augen. Sie fühlte sich warm und wunderbar. Alles war gut, und was nicht gut war, würde gut werden.
Das Glück machte sie verwegen. »Da ist noch etwas!«, sagte sie. Wovor sollte sie Angst haben? Sie brauchten sie. Nur sie konnte ihnen diesen Schatten herauslesen, niemand sonst - außer Mo, und den hatten sie immer noch nicht gefangen. Sie würden ihn nie fangen, niemals.
»Was noch?« Die Elster strich sich über das streng zurückgesteckte Haar. Wie sie wohl früher einmal ausgesehen hatte, als sie so alt wie Meggie gewesen war? Hatte sie auch da schon so schmale Lippen gehabt?
»Ich werde nur lesen, wenn ich Staubfinger noch mal sehen darf. Bevor er ...« Sie beendete den Satz nicht.
»Wozu?«
Weil ich ihm sagen will, dass wir versuchen werden ihn zu retten, dachte Meggie, und weil ich glaube, dass meine Mutter bei ihm ist, aber natürlich sprach sie das nicht aus. »Ich will ihm sagen, dass es mir Leid tut«, antwortete sie stattdessen. »Schließlich hat er uns damals geholfen.«
Mortola verzog spöttisch den Mund. »Wie rührend!«, sagte sie.
Ich will sie nur einmal aus der Nähe sehen, dachte Meggie. Vielleicht ist sie es ja doch nicht. Vielleicht ...
»Was, wenn ich nein sage?« Die Elster musterte sie wie eine Katze, die mit einer jungen, unerfahrenen Maus spielt.
Aber Meggie hatte diese Frage erwartet. »Dann beiß ich mir auf die Zunge!«, sagte sie. »Ich beiß so fest, dass sie anschwillt und ich heute Abend nicht lesen kann.«
Die Elster lehnte sich in ihrem Sessel zurück und lachte. »Hast du das gehört, Basta? Die Kleine ist nicht dumm.«
Basta nickte nur.
Mortola aber musterte Meggie fast wohlwollend. »Ich werde dir etwas sagen: Ich erfülle dir deinen albernen kleinen Wunsch. Doch was dein Lesen heute Abend betrifft, so möchte ich, dass du dir meine Fotos ansiehst.«
Meggie sah sich um.
»Sieh sie dir gut an. Siehst du all die Gesichter? Jeder von ihnen hatte sich Capricorn zum Feind gemacht, und von keinem hat man je wieder gehört. Die Häuser, die du auf den Fotos siehst, stehen auch nicht mehr, nicht eins von ihnen, das Feuer hat sie gefressen. Denk an die Fotos, wenn du heute Abend liest, kleine Hexe. Solltest du herumstottern oder auf den dummen Gedanken kommen, einfach den Mund zu halten, dann wird dein Gesicht schon bald auch aus so einem hübschen Goldrahmen blicken. Wenn du aber deine Sache gut machst, dann lassen wir dich zurück zu deinem Vater. Warum nicht? Lies wie ein Engel heute Nacht und du wirst ihn wiedersehen! Man hat mir erzählt, dass seine Stimme jedes Wort in Samt und Seide verwandelt, in Fleisch und Blut. So wirst du auch lesen, nicht zittrig und stammelnd wie dieser Dummkopf Darius. Hast du mich verstanden?«
Meggie sah sie an. »Verstanden!«, sagte sie leise, auch wenn sie genau wusste, dass die Elster log.
Sie würden sie niemals zurück zu Mo lassen. Er würde sie schon holen müssen.
Bastas Stolz und Staubfingers List
»Immerhin wüßte ich gern, ob wir jemals in Liedern und Geschichten vorkommen werden. Wir sind natürlich in einer; aber ich meine: in Worte gefaßt, weißt du, am Kamin erzählt oder aus einem großen, dicken Buch mit roten und schwarzen Buchstaben vorgelesen, Jahre und Jahre später. Und die Leute werden sagen: >Laß uns von Frodo und dem Ring hören! < Und sie werden sagen: >Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten.<«
J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe
Basta schimpfte ohne Unterbrechung vor sich hin, während er Meggie hinüber zur Kirche brachte. »Auf die Zunge beißen? Seit wann fällt die Alte auf so etwas herein? Und wer darf das freche Gör in die Gruft bringen? Basta, wer sonst? Was bin ich hier eigentlich? Die einzige männliche Magd?«
»Gruft?« Meggie hatte geglaubt, dass die Gefangenen immer noch in den Netzen steckten, doch als sie in die Kirche traten, war nichts von ihnen zu sehen und Basta stieß sie ungeduldig zwischen die Säulen.
»Ja, die Gruft!«, fuhr er sie an. »Aufbewahrungsort für Tote und solche, die es bald sein werden. Da geht's runter. Na los, ich hab heute noch Besseres zu tun, als den Babysitter für das Fräulein Zauberzunge zu spielen.«
Die Treppe, auf die er wies, führte steil hinunter in die Dunkelheit. Die Stufen waren ausgetreten und so ungleichmäßig hoch, dass Meggie bei jedem zweiten Schritt ins Stolpern kam. Unten war es so dunkel, dass sie erst nicht merkte, dass die Treppe zu Ende war, und mit dem Fuß nach der nächsten Stufe tastete, bis Basta sie unsanft nach vorne stieß. »Was soll das nun wieder?«, hörte sie ihn fluchen. »Warum ist die verdammte Laterne schon wieder aus?« Ein Streichholz flammte auf, und Bastas Gesicht tauchte aus dem dunklen Nichts.
»Besuch für dich, Staubfinger!«, verkündete er höhnisch, während er die Laterne anzündete. »Zauberzunges Töchterchen will sich von dir verabschieden. Ihr Vater hat dich in diese Welt gebracht und seine Tochter wird dafür sorgen, dass du sie heute Abend wieder verlässt. Ich hätte sie ja nicht hergelassen, aber die Elster wird noch richtig weich auf ihre alten Tage. Die Kleine scheint dich wirklich zu mögen. An deinem schönen Gesicht kann das ja wohl kaum liegen, oder?« Bastas Lachen hallte hässlich von den feuchten Wänden wider.