»He, Staubfinger!«, rief Basta. »Ich wusste, du stichst nicht. Gib mir mein Messer zurück. Du weißt eh nichts damit anzufangen!«
Staubfinger beachtete ihn nicht. »Sie werden dich töten, wenn du bleibst«, sagte er zu Resa, aber er ließ ihre Hand los.
»He, da oben!«, brüllte Basta. »Hierher! Alarm! Die Gefangenen wollen sich davonmachen!«
Erschrocken sah Meggie Staubfinger an. »Warum hast du ihn nicht geknebelt?«
»Womit denn, Prinzessin?«, fuhr Staubfinger sie an.
Resa zog Meggie an sich und strich ihr übers Haar.
»Erschießen, erschießen, sie werden euch erschießen!« Bastas Stimme überschlug sich. »Heeeee! Alaaarm!«, schrie er noch einmal und rüttelte an den Gitterstäben.
Oben wurden Schritte hörbar.
Staubfinger warf Resa einen letzten Blick zu. Dann stieß er einen leisen Fluch aus, drehte sich um und sprang die ausgetretenen Stufen hinauf.
Meggie konnte nicht hören, ob er die Tür oben aufstieß. Nur Bastas Geschrei klang ihr in den Ohren, hilflos lief sie auf ihn zu, sie wollte ihn schlagen, durch das Gitter, mitten in das schreiende Gesicht. Wieder hörte sie Schritte, gedämpfte Schreie ... was sollten sie nur tun? Jemand kam die Treppe heruntergepoltert. Kam Staubfinger zurück? Aber es war nicht sein Gesicht, das aus der Dunkelheit auftauchte, sondern das von Flachnase. Hinter ihm stolperte noch einer von Capricorns Männern die Treppe herunter. Er sah sehr jung aus, das Gesicht rund und bartlos, doch er richtete sofort die Flinte auf Meggie und ihre Mutter.
»He, Basta! Was machst du hinter dem Gitter?«, fragte Flachnase verblüfft.
»Schließ auf, du verdammter Hohlkopf!«, fuhr Basta ihn durch die Gitterstäbe an. »Staubfinger ist weg.«
»Staubfinger?« Flachnase fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Dann hatte der Junge hier doch Recht. Kam gerade zu mir und erzählt, er hätte den Feuerspucker oben hinter einer Säule gesehen.«
»Du bist ihm nicht hinterher? Ja, bist du denn wirklich so blöd, wie du aussiehst?« Basta presste das Gesicht gegen die Stäbe, als könnte er sich hindurchzwängen.
»He, he, pass auf, was du sagst, klar?« Flachnase trat an das Gitter heran und musterte Basta mit sichtlichem Vergnügen. »Er hat dich also schon wieder reingelegt, der Schmutzfinger. Das wird Capricorn gar nicht gefallen.«
»Schick ihm jemanden nach!«, brüllte Basta. »Oder ich sag Capricorn, dass du ihn hast laufen lassen!«
Flachnase zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ach ja? Wer steckt denn hinter dem Gitter, ich oder du? Er wird nicht weit kommen. Am Parkplatz stehen zwei Wachen, auf dem Platz stehen noch mal drei, und sein Gesicht kann man ja leicht erkennen, dafür hast du schließlich gesorgt, nicht wahr?« Sein Lachen klang wie Hundegebell. »Weißt du, an den Anblick könnte ich mich glatt gewöhnen! Dein Gesicht macht sich gut hinter Gittern. Da kannst du einem nicht frech kommen und mit deinem Messer unter der Nase herumfuchteln.«
»Schließ endlich die verdammte Tür auf!«, brüllte Basta. »Oder ich schneid dir deine hässliche Nase ab.«
Flachnase verschränkte die Arme. »Ich kann gar nicht aufschließen«, stellte er mit gelangweilter Stimme fest. »Der Schmutzfinger hat die Schlüssel mitgenommen. Oder siehst du sie irgendwo?« Fragend drehte er sich zu dem Jungen um, der Meggie und ihrer Mutter immer noch die Flinte entgegenhielt. Als er den Kopf schüttelte, grinste Flachnase über das ganze eingedrückte Gesicht. »Nein, er sieht ihn auch nirgendwo. Tja, da werde ich wohl mal zu Mortola gehen. Vielleicht hat sie ja einen Ersatzschlüssel.«
»Lass das Grinsen!«, schrie Basta. »Sonst schäl ich es dir von den Lippen.«
»Was du nicht sagst. Ich seh dein Messerchen gar nicht. Hat Staubfinger es dir etwa schon wieder gestohlen? Wenn das so weitergeht, kann er bald eine Sammlung aufmachen.« Flachnase wandte Basta den Rücken zu und zeigte auf die Zelle neben ihm. »Sperr die Frau dort ein und bewach sie, bis ich mit den Schlüsseln zurückkomme«, sagte er. »Ich bring erst mal die kleine Zauberzunge zurück.«
Meggie sträubte sich, als er sie mit sich zerrte, aber Flachnase hob sie kurzerhand hoch und warf sie sich über die Schulter. »Was hat die Kleine eigentlich hier unten gemacht?«, fragte er. »Weiß Capricorn davon?«
»Frag die Elster!«, fauchte Basta.
»Ich werd mich hüten«, brummte Flachnase, während er mit Meggie zur Treppe stapfte. Sie sah noch, wie der Junge ihre Mutter mit dem Flintenlauf in die andere Zelle stieß, dann waren da nur noch die Stufen und die Kirche und der staubige Platz, über den Flachnase sie schleppte wie einen Sack Kartoffeln.
»Na, hoffentlich ist dein Stimmchen nicht so dünn wie du!«, grunzte er, als er sie vor dem Zimmer, in das man sie und Fenoglio gesperrt hatte, wieder auf die Füße stellte. »Sonst wird der Schatten wohl etwas schwachbrüstig sein, wenn er heute Abend tatsächlich hier erscheint.«
Meggie antwortete nicht.
Als Flachnase die Tür aufschloss, ging sie ohne ein Wort an Fenoglio vorbei, kletterte auf ihr Bett und vergrub den Kopf in Mos Pullover.
Pech für Elinor
Dann beschrieb ihm Charley noch die genaue Lage der Polizeiwache und gab ihm dazu noch zahlreiche Anweisungen, wie er geradewegs durch den Torweg und dann im Hof rechter Hand die Stufen hinauf durch die Tür gehen sollte, und dass er den Hut abnehmen müsste, wenn er in das Amtszimmer käme. Danach forderte er ihn auf allein weiterzugehen und versprach ihm, dort, wo sie sich verabschiedeten, auf ihn zu warten.
Charles Dickens, Oliver Twist
Elinor war mehr als eine Stunde unterwegs, bis sie endlich einen Ort mit einer eigenen Polizeiwache fand. Das Meer war noch weit, aber die Hügel wurden schon flacher, und an den Hängen wuchs Wein statt des baumreichen Dickichts, das Capricorns Dorf umgab. Es würde ein furchtbar heißer Tag werden, noch heißer als die vergangenen, das spürte man schon jetzt. Als Elinor aus dem Auto stieg, hörte sie ein fernes Donnergrollen. Der Himmel über den Häusern war immer noch blau, doch es war ein dunkles Blau, dunkel wie tiefes Wasser. Unheilschwanger ...
Sei nicht albern, Elinor!, dachte sie, während sie auf das blassgelb verputzte Haus zuging, in dem die Polizeiwache lag. Es kommt ein Gewitter, das ist alles, oder wirst du jetzt schon ebenso abergläubisch wie dieser Basta?
Es saßen zwei Beamte in dem engen Büro, als Elinor eintrat. Sie hatten ihre Uniformjacken über die Stühle gehängt. Die Luft war so stickig, dass man sie hätte in Flaschen füllen können, trotz des großes Ventilators, der sich unter der Decke drehte.
Der jüngere von den beiden, breit und kurznasig wie ein Mops, lachte Elinor schon aus, während sie ihre Geschichte noch erzählte, und fragte sie, ob sie vielleicht deshalb einen so roten Kopf habe, weil der Wein dieser Gegend ihr etwas zu gut schmecke. Elinor hätte ihn von seinem Stuhl gekippt, wenn der andere sie nicht beruhigt hätte. Es war ein hagerer, langer Kerl mit melancholischem Blick und dunklem Haar, das sich über der Stirn lichtete.
»Hör schon auf!«, wies er den anderen zurecht. »Lass sie ihre Geschichte wenigstens zu Ende erzählen.« Er lauschte mit unbewegtem Gesicht, während Elinor von Capricorns Dorf und seinen schwarzen Männern erzählte, runzelte die Stirn, als sie von Brandstiftung und toten Hähnen sprach, und hob die Augenbrauen, als sie zu Meggie und der geplanten Hinrichtung kam. Von dem Buch und davon, wie diese Hinrichtung vonstatten gehen sollte, erwähnte sie natürlich nichts. Noch vor zwei Wochen hätte sie schließlich selbst kein Wort davon geglaubt.