Als sie mit ihrem Bericht am Ende war, schwieg ihr Zuhörer eine Weile. Er ordnete die Bleistifte auf seinem Schreibtisch, legte ein paar Papiere zusammen und blickte sie schließlich nachdenklich an. »Ich habe schon von diesem Dorf gehört«, sagte er.
»Natürlich, jeder hat davon gehört!«, spottete der andere. »Das Dorf des Teufels, das verfluchte Dorf, das sogar die Schlangen meiden. Die Wände der Kirche sind mit Blut bestrichen und durch die Gassen streichen schwarze Männer, die in Wirklichkeit Totengeister sind und Feuer in ihren Taschen tragen. Es reicht, nur in die Nähe zu kommen, und schon löst man sich in Luft auf. Puff!« Er hob die Hände und klatschte sie über dem Kopf zusammen.
Elinor musterte ihn mit eisigem Blick. Sein Kollege lächelte, aber dann stand er mit einem Seufzer auf, zog sich umständlich die Jacke an und winkte Elinor, ihm zu folgen. »Ich seh mir das mal an!«, sagte er über die Schulter.
»Wenn du nichts Besseres zu tun hast!«, rief der andere ihm hinterher und lachte so laut, dass Elinor fast zurückgegangen wäre, um ihn doch noch von seinem Stuhl zu kippen. Kurze Zeit später saß sie auf dem Beifahrersitz eines Polizeiwagens, und vor ihr wand sich dieselbe kurvenreiche Straße durch die Hügel, die sie gekommen war. Du meine Güte, warum habe ich das bloß nicht eher getan?, dachte sie immer wieder. Nun wird alles gut, alles. Niemand wird erschossen oder hingerichtet, Meggie bekommt ihren Vater zurück und Mortimer seine Tochter. Ja, alles wird gut! Dank Elinor! Sie hätte singen können, tanzen (auch wenn sie das nicht besonders gut konnte). Noch nie in ihrem Leben war sie mit sich so zufrieden gewesen. Da sollte noch einer behaupten, sie käme mit der realen Welt nicht zurecht.
Der Polizist neben ihr sagte kein Wort. Er blickte nur auf die Straße, nahm Kurve für Kurve in einem Tempo, das Elinors Herzschlag immer wieder schmerzhaft beschleunigte, und knetete ab und zu geistesabwesend sein rechtes Ohrläppchen. Er schien den Weg zu kennen. Er zögerte nicht ein einziges Mal, wenn die Straße sich teilte, an keiner Abzweigung fuhr er in die falsche Richtung. Elinor musste daran denken, wie endlos lange sie und Mo nach dem Dorf gesucht hatten, und dann, ganz plötzlich, kam ihr ein etwas beunruhigender Gedanke.
»Es sind ziemlich viele!«, sagte sie mit unsicherer Stimme, als sie gerade wieder eine Kurve mit solchem Schwung nahmen, dass der Abgrund zu ihrer Linken bedrohlich nahe kam. »Dieser Capri-corn hat ziemlich viele Männer. Und sie sind bewaffnet, auch wenn sie wohl nicht besonders gut zielen können. Sollten Sie da nicht um Verstärkung bitten?« So war es doch immer in diesen Filmen, diesen lächerlichen Filmen, in denen es nur um Verbrecher und Polizisten ging. Da wurde immer um Verstärkung gebeten.
Der Polizist fuhr sich durch das schüttere Haar und nickte, als hätte er daran natürlich selbst auch längst gedacht. »Sicher, sicher!«, sagte er, während er mit abwesender Miene nach seinem Funkgerät griff. »Verstärkung kann da bestimmt nicht schaden, aber sie sollte sich im Hintergrund halten. Schließlich geht es erst einmal darum, ein paar Fragen zu stellen.«
Er forderte über Funk fünf Männer an. Nicht viel gegen Capricorns Schwarzjacken, wie Elinor fand, aber besser als nichts - auf jeden Fall besser als ein verzweifelter Vater, ein arabischer Junge und eine etwas übergewichtige Büchersammlerin.
»Das ist es!«, sagte sie, als Capricorns Dorf in der Ferne auftauchte, grau und unscheinbar in all dem dunklen Grün.
»Ja, das dachte ich mir!«, antwortete der Polizist und von da an schwieg er wieder. Als er dem Posten auf dem Parkplatz nur kurz zunickte, wollte Elinor sich einfach nichts Schlechtes dabei denken. Erst als er mit ihr vor Capricorn stand, in der rot getünchten Kirche, und sie ihm übergab wie ein Ding, das er gefunden hatte und nun dem rechtmäßigen Besitzer zurückerstattete, musste sie es sich eingestehen - dass nichts gut werden würde. Dass nun alles verloren war und sie so dumm gewesen war, so furchtbar dumm.
»Sie erzählt schlimme Sachen über Euch herum«, hörte sie den Polizisten sagen. Er mied es, Elinor anzusehen. »Sie hat da etwas von Kindesentführung gesagt. Das wäre eine andere Sache als Brandstiftung ...«
»Und es ist Unsinn!«, beantwortete Capricorn gelangweilt die unausgesprochene Frage. »Ich liebe Kinder - wenn sie mir nicht zu nahe kommen. Ansonsten stören sie nur die Geschäfte.«
Der Polizist nickte und betrachtete unglücklich seine Hände. »Sie hat auch noch etwas von einer Hinrichtung gesagt ...«
»Wirklich?« Capricorn musterte Elinor, als könnte er nur staunen über so viel Phantasie. »Nun, du weißt, so etwas habe ich gar nicht nötig. Die Leute tun, was ich sage, auch ohne dass ich zu drastischeren Maßnahmen greifen muss.«
»Natürlich!«, murmelte der Polizist und nickte. »Natürlich.«
Er hatte es sehr eilig, wieder fortzukommen. Als seine schnellen, abgehackten Schritte verklangen, lachte Cockerell, der die ganze Zeit auf den Stufen gesessen hatte. »Drei kleine Kinder hat er, nicht wahr? Ja, man sollte allen Polizisten vorschreiben, kleine Kinder zu haben. Bei diesem war es besonders leicht, Basta musste sich bloß zweimal vor die Schule stellen. Wie sieht es aus? Sollen wir vorsichtshalber noch einen Besuch bei ihm zu Hause machen? Zur Auffrischung des guten Eindrucks?« Fragend sah er Capricorn an, aber der schüttelte den Kopf.
»Nein, ich denke, das ist nicht nötig! Lass uns lieber darüber nachdenken, was wir mit unserem Gast hier anfangen. Was tun wir mit jemandem, der so schlimme Dinge über uns erzählt?«
Elinor wurden die Knie weich, als seine blassen Augen sich auf sie richteten. Wenn Mortimer mir jetzt anbieten würde, mich in irgendein Buch zu lesen, dachte sie, ich würde es tun! Ich würde nicht mal wählerisch sein.
Hinter ihr standen noch drei oder vier von den Schwarzjacken, weglaufen war also sinnlos. Jetzt kannst du dich nur noch mit Würde in dein Schicksal ergeben, Elinor!, dachte sie.
Aber von so etwas zu lesen war viel leichter, als es zu tun.
»Die Gruft oder die Ställe?«, fragte Cockerell, während er auf sie zuschlenderte. Die Gruft?, dachte Elinor. Darüber hat Staubfinger doch irgendetwas gesagt? Es ist nichts Gutes gewesen ...
»Die Gruft? Warum nicht? Loswerden müssen wir sie, wer weiß, wen sie sonst als Nächstes herbringt.« Capricorn verbarg ein Gähnen hinter der vorgehaltenen Hand. »Gut, dann bekommt der Schatten heute Abend eben noch etwas mehr zu tun. Das wird ihm gefallen.«
Elinor wollte etwas sagen, irgendetwas Verwegenes, Heldenhaftes, doch ihre Zunge war zu nichts zu gebrauchen. Wie taub lag sie in ihrem Mund. Cockerell hatte sie schon bis zu der lächerlichen Statue gezerrt, als Capricorn ihn noch einmal zurückrief.
»Ich habe ganz vergessen, sie nach Zauberzunge zu fragen!«, rief er. »Frag, ob sie zufällig weiß, wo er sich zurzeit aufhält.«
»Na los, raus damit!«, knurrte Cockerell und packte ihren Nacken, als wollte er die Worte aus ihr herausschütteln. »Wo steckt er?«
Elinor presste die Lippen aufeinander. Schnell, Elinor, schnell, eine gute Antwort!, dachte sie, und plötzlich funktionierte ihre Zunge wieder.
»Was fragst du mich das?«, rief sie Capricorn zu, der immer noch in seinem Sessel saß, so blass, als hätte man ihn zu lange gewaschen, als hätte die Sonne, die draußen auf den Platz brannte, ihn ausgebleicht. »Du weißt die Antwort doch am besten. Er ist tot. Deine Männer haben ihn erschossen, ihn und den Jungen.« Sieh ihn an, Elinor!, dachte sie. Ganz fest, so wie du früher deinen Vater angesehen hast, wenn er dich mit dem falschen Buch erwischt hat. Ein paar Tränen wären auch nicht schlecht. Komm schon, denk einfach an deine Bücher, all die verbrannten Bücher! Denk an die letzte Nacht, an die Angst, die Verzweiflung - und wenn das alles nichts hilft, dann kneif dich!