Elizabeth Haydon
Tochter der Erde
Für die Friedensstifter und für Unterhändler
Für die Albtraumjäger und jene,
die aufgeschlagene Knie küssen
Für diejenigen, die die Ordnung unserer Welt
durch ihre Kinder stärken, eins nach dem anderen
Für die Vermächtnisstifter, die Geschichtenschreiber
Für diejenigen, die die Vergangenheit ehren,
indem sie die Zukunft formen
Für diejenigen,
für die Elternschaft eine Berufung ist
Und vor allem für diejenigen,
die mir am nächsten sind
Mit all meiner Liebe
Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf,
spät treten sie in Erscheinung, Die Lebensalter des Menschen: Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.
Ein jeder Mensch, entstanden im Blute und darin geboren,
Beschreitet die Erde, wird von ihr genährt, Greift zum Himmel und genießt seinen Schutz, Steigt indes erst am Ende seiner Lebenszeit zu ihm
auf und gesellt sich zu den Sternen. Blut schenkt Neubeginn, Erde Nahrung. Der Himmel schenkt zu Lebzeiten Träume im Tode
die Ewigkeit. So sollen sie sein, die Drei, einer zum anderen.
Er geht als einer der Letzten und kommt als einer
der Ersten, Trachtet danach, aufgenommen zu werden,
ungebeten, an neuem Ort. Die Macht, die er gewinnt, indem er der Erste ist, Ist verloren, wenn er als Letzter in Erscheinung tritt. Unwissend spenden die, die ihn aufnehmen, ihm Nahrung,
In Lächeln gehüllt wie er, der Gast; Doch im Geheimen wird die Vorratskammer vergiftet. Neid, geschützt vor seiner eigenen Macht Niemals hat, wer ihn aufnimmt, ihm Kinder geboren,
und niemals wird dies geschehen, Wie sehr er sich auch zu vermehren trachtet.
Das Schlafende Kind, sie, die Jüngstgeborene, Lebt weiter in Träumen, doch weilt sie beim Tod, Der ihren Namen in sein Buch zu schreiben gebot, Und keiner beweint sie, die Auserkorene.
Die Mittlere, sie liegt und schlummert leise, Zwischen dem Himmel aus Wasser und treibendem Sand,
Hält stille, geduldig, Hand auf Hand, Bis zu dem Tag, an dem sie antritt die Reise. Das älteste Kind ruht tief, tief drinnen
Im immerstillen Schoß der Erden.
Noch nicht geboren, doch mit seinem Werden
Wird das Ende aller Zeit beginnen.
Die Prophezeiung des letzten Wächters
Im Innern des Kreises der Vier wird stehen ein
Kreis der Drei
Kinder des Windes sie alle, und doch sind sie’s nicht, Der Jäger, der Nährer, der Heiler. Furcht führt sie zueinander, Liebe hält sie zusammen, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.
Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksaclass="underline" Der, welcher jagt, wird auch beschützen, Der, welcher nährt, wird auch verlassen, Der, welcher heilt, wird auch töten, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.
Höre, o Letzter, auf den Wind:
Der Wind der Vergangenheit wird sie geleiten nach Haus
Der Wind der Erde wird sie tragen in die Sicherheit Der Wind der Sterne wird singen das Mutterlied,
das ihrer Seele am vertrautesten klingt, Um das Kind vor dem Wind zu verbergen. Von den Lippen des Schlafenden Kindes werden
kommen Worte von höchster Weisheit: Hüte dich vor dem Schlafwandler, Denn Blut wird das Mittel sein, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.
Intermezzo
Meridion saß im Dunkeln, völlig in seine Gedanken vertieft. Auch die Instrumententafel des Zeit-Editors war dunkel; im Augenblick stand die riesige Maschine still, die glänzenden Streifen der durchsichtigen Filme waren aufgespult und jede Rolle sorgfältig mit Vergangenheit oder Zukunft beschriftet. Die Gegenwart, wie stets ein flüchtiger silberner Nebel, lag unter der Lampe des Editors, drehte und wandelte sich im Dämmerlicht von einem Herzschlag zum anderen.
Über Meridions Knien lag ein uralter Strang, ein Geschichtenfaden aus der Vergangenheit. Es war ein Filmfragment von unermesslicher Bedeutung, am einen Ende jedoch verbrannt und völlig zerfasert. Behutsam hob Meridion ihn hoch, drehte ihn in der Hand und seufzte tief. Die Zeit war zerbrechlich, vor allem, wenn man sie mechanisch beeinflusste. Er hatte mit dem spröden Film äußerste Vorsicht walten lassen, aber unter dem Druck der Zahnräder im Zeit-Editor war er gerissen, hatte Feuer gefangen, und das Bild, das Meridion benötigte, war verbrannt. Jetzt war es zu spät; der Augenblick war für immer verloren, und mit ihm auch die Information, die er enthielt. Die Identität des Dämons, den er suchte, würde verborgen bleiben. Es gab kein Zurück, jedenfalls nicht auf diesem Weg.
Meridion rieb sich die Augen und lehnte sich zurück in das durchsichtige, funkelnde Aurafeld, das mit seiner Lebensessenz verbunden war und das er nun zu einer Art Stuhl geformt hatte. Die muntere Melodie, die ihn umgab, wirkte stärkend und belebend, klärte seine Gedanken und half ihm, sich zu konzentrieren. Es war sein Namenslied, die seinem Leben eingeborene Melodie. Eine in der ganzen Welt einmalige Schwingung, verbunden mit seinem wahren Namen. Der Dämon, den er suchte, besaß auch große Macht über Namen. Meridion war in die Vergangenheit gereist, um ihn zu finden, hatte nach einem Weg gesucht, die Zerstörung abzuwenden, die jener Dämon sorgfältig über die Zeit hinweg geplant hatte, aber er war ihm entwischt. F’dor waren Meister der Lüge, Väter des Betrugs. Sie besaßen keine körperliche Form, sondern ergriffen Besitz von unschuldigen Wesen, lebten in ihnen oder benutzten sie, sodass sie ihren Willen taten, bis sich dem Dämon irgendwann die Gelegenheit bot, zu einem neuen, mächtigeren Wirt Weiterzuziehen. Selbst aus der Ferne, selbst von der Warte der Zukunft aus gab es kaum eine Möglichkeit, sie zu entdecken.
Aus diesem Grund hatte Meridion die Zeit beeinflusst, hatte Stücke aus der Vergangenheit zerschnitten und neu angeordnet, um eine besonders begabte Benennerin mit den beiden Geschöpfen zusammenzubringen, die ihr möglicherweise helfen konnten, den Dämon aufzuspüren und zu vernichten. Er hatte gehofft, dass diese drei auf ihrer Seite der Zeit in der Lage sein würden, die Heldentat zu vollbringen, ehe es zu spät war, die Pläne des Dämons zu durchkreuzen und der Zerstörung Einhalt zu gebieten, welche das Land nunmehr auf beiden Seiten der Welt heimsuchte. Doch sein Plan war riskant gewesen. Wenn man verschiedene Leben zusammenbrachte, war das noch lange keine Garantie dafür, dass die sich daraus ergebenden Möglichkeiten entsprechend genutzt werden würden.
Schon jetzt sah sich Meridion mit den unglücklichen Folgen seiner Handlungen konfrontiert. Als sich die Vergangenheit selbst zerstört hatte, war der Zeit-Editor beim Abspulen der Zeitfäden so heiß gelaufen, dass Filmfetzen abgerissen waren und über der Maschine in der Luft geschwebt hatten. Der Gestank des verbrannten Zeitfilms war scharf und ätzend; er stieg Meridion unerbittlich in die Nase, drang in seine Lungen und ließ ihn bei dem Gedanken erzittern, welchen Schaden er unabsichtlich der Zukunft antun mochte, indem er sich in die Vergangenheit eingemischt hatte. Aber nun war es zu spät.
Meridion wedelte mit der Hand über die Instrumententafel des Zeit-Editors . Sofort erwachte die gigantische Maschine röhrend zum Leben, und ihre komplizierten Linsen wurden von einer starken Lichtquelle im Innern erhellt. Ein warmer Glanz ergoss sich über die großen Glasscheiben, welche die Wände des kreisförmigen Raums bildeten und bis zur durchsichtigen Decke hinaufreichten. Die funkelnden Sterne, die noch einen Augenblick zuvor in der Dunkelheit aus jedem Winkel unter und über ihm sichtbar gewesen waren, verschwanden im Schein der reflektierten Helligkeit. Meridion hielt das Stück Film ins Licht. Die Bilder waren noch da, aber schwer zu erkennen. Die zierliche Frau konnte er deutlich sehen, denn ihr mit einem schwarzen Band Zurückgebundenes Haar schimmerte golden und warf das Strahlen des Sonnenaufgangs zurück. Sie stand in der Morgenfrühe inmitten der majestätischen Berglandschaft, in der er sie und ihren Gefährten zuletzt erspäht hatte. Behutsam blies Meridion auf den Geschichtenstrang, um ihn vom Staub zu befreien, und lächelte, als die Frau auf dem Bild fröstelnd den Mantel enger um sich zog. Sie blickte hinunter in das Tal, das sich zu ihren Füßen erstreckte, gefleckt vom Frühlingsfrost und dem Zwielicht der Dämmerung.