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»Sie hat dich geliebt, das weiß ich«, flüsterte sie. Schon lange versuchte sie, Jo davon zu überzeugen.

»Ja, bestimmt«, entgegnete Jo hämisch.

»Das war wunderschön«, sagte Ashe. Die beiden Frauen fuhren auf. Wie immer hatten sie Ashe nicht kommen sehen. Vor Verlegenheit stieg Rhapsody das Blut ins Gesicht, sodass es die Farbe des dämmernden Horizonts annahm.

»Danke«, sagte sie und wandte sich hastig ab. »Bist du bereit?«

»Ja. Achmed und Grunthor sind direkt hinter mir. Vermutlich wollen sie sich verabschieden.«

»Keine Angst, ich werde zurückkommen«, versicherte Rhapsody und drückte Jo noch einmal an sich. »Wenn wir in Sepulvarta sind, in der heiligen Stadt, wo der Patriarch lebt, dann werde ich versuchen, dir welche von den Süßigkeiten zu besorgen, die dir so gut schmecken.«

»Danke«, antwortete Jo und wischte sich abwehrend mit dem Ärmel die Augen. »Jetzt beeil dich und brich auf, damit ich nicht mehr in diesem elenden Wind Rumstehen muss; er tut mir in den Augen weh.«

Als Grunthor sie zum Abschied an sich drückte, bemühte sich Rhapsody, nicht nach Luft zu schnappen, aber in der festen Umarmung des Riesen nahm ihr Gesicht bald eine ungesund rote Farbe an. Der Panoramablick über das orlandische Plateau verschwamm vor ihren Augen, und die Klippen der Zahnfelsen neigten sich in einem Schwindel erregenden Winkel. Verschwommen überlegte sie, ob es wohl ein ähnliches Gefühl wäre, wenn man von einem Bären zu Tode gequetscht würde.

Endlich setzte Grunthor sie ab, ließ sie los und klopfte ihr unbeholfen auf die Schulter. Rhapsody blickte in das große graugrüne Gesicht und lächelte. Der Bolg machte eine demonstrativ unbekümmerte Miene, aber sie sah, wie er die massiven Kiefer anspannte, und seine bernsteinfarbenen Augen glitzerten feucht an den Rändern.

»War mir wirklich recht, wenn du dir’s noch mal anders überlegtest, Gräfin«, sagte er ernst. Rhapsody schüttelte den Kopf. »Wir haben das doch alles ausführlich durchgesprochen, Grunthor. Mir wird nichts Böses geschehen. Ich hatte keinen einzigen schlechten Traum über diese Reise, und du weißt selbst, wie selten dergleichen vorkommt.«

Der Riese verschränkte die Arme. »Und wer soll dich vor den Träumen retten, die dich unterwegs womöglich plagen?«, " hakte er nach. »Soweit ich weiß, war das bisher immer meine Aufgabe.«

Bei seinen Worten wurden Rhapsodys Gesichtszüge weicher. »Ja, du warst der Einzige, der das je geschafft hat«, antwortete sie und strich mit der Hand über seinen riesigen muskulösen Arm. »Wahrscheinlich ist das noch ein kleines Opfer, das ich für die Sicherheit der Bolg bringen muss.«

Noch ein Gedanke kam ihr in den Sinn, und sie wühlte in ihrem Tornister, bis sie schließlich eine große Seemuschel hervorzog. »Aber ich habe ja das hier«, meinte sie mit einem strahlenden Lächeln. Grunthor kicherte. Er hatte ihr die Muschel geschenkt, kurz nachdem sie von der Wurzel emporgestiegen waren, eine Erinnerung an einen Ausflug zur Küste, den er und Achmed unternommen hatten, auf der Suche nach einer Möglichkeit, Rhapsody von der langen Reise durch den Bauch der Erde nach Serendair zurückzubringen. Bei der Erinnerung daran erstarb sein Lächeln. Als sie sich endlich wieder getroffen hatten, hatte Rhapsody ihnen mitgeteilt, dass die Insel vor mehr als tausend Jahren vom Meer verschlungen worden war. In diesem Augenblick hatte er zum ersten Mal in seinem Leben ein schlechtes Gewissen gehabt, denn ihm war klar geworden, dass er und Achmed sie von einem Heim und einer Familie weggeschleppt hatten, die sie niemals wieder sehen würde. Manchmal legte Rhapsody die Muschel an ihr Ohr, wenn sie schlief, in dem Versuch, mit dem Rauschen der Wogen die quälenden Albträume zu übertönen, in denen sie vor Verzweiflung um sich schlug und schluchzte.

»Weißt du, ich würde dir jederzeit deine schlimmsten Träume abnehmen, wenn ich könnte, Hoheit«, beteuerte Grunthor.

Rhapsody spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, und ein überwältigendes Verlustgefühl machte sich am Rand ihres Bewusstseins bemerkbar. »Ich weiß ... Ich weiß, dass du das tun würdest«, sagte sie und umarmte ihn erneut. Abrupt entzog sie sich ihm und bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen. Ihre Augen glitzerten schelmisch. »Und glaub mir, wenn es in meiner Macht stünde, würde ich dir wirklich gern meine schlimmsten Träume überlassen. Wo ist Achmed? Ashe und ich müssen uns langsam auf den Weg machen.«

Plötzlich überkam sie ein Schwindel, ein Gefühl, dass sich die Zeit um sie herum in alle Richtungen ausdehnte. Schon früher hatte sie sich manchmal so gefühlt, aber sie wusste nicht mehr genau, wo und wann. Auch Grunthor schien es zu bemerken, denn seine Bersteinaugen verschleierten sich; dann blinzelte er ein paarmal schnell und lächelte sie an.

»Vergiss nich, dich von Seiner Majestät zu verabschieden«, meinte er fröhlich und deutete dabei auf eine Gestalt in einem Umhang, die ein Stück abseits stand.

»Muss ich wirklich? Wahrscheinlich kriege ich von ihm sowieso keinen netteren Abschied als bei unserer letzten Begegnung. Und da wäre es um ein Haar zu einem Handgemenge gekommen.«

»O doch, du musst«, befahl Grunthor gespielt ernst. »Das ist ein Befehl, Fräuleinchen.«

Lachend salutierte Rhapsody. »Na gut. Es sei fern von mir, gegen dero untertänigst zu gehorchender Autorität aufzumucken«, meinte sie. »Bezieht sich deine Befehlsgewalt eigentlich nur auf mich?«

»Nee«, antwortete Grunthor.

»Du hast also die Herrschaft über alle Wesen auf der Welt?«

»Verdammt richtig.« Der riesenhafte Sergeant gab dem Firbolg-König ein Zeichen. »Ach, komm schon, Gräfin. Sag ihm Lebewohl. Vielleicht lässt er’s sich ja nich anmerken, aber er wird dich grauslich vermissen.«

»Aber sicher«, sagte sie, als Achmed näher trat. »Ich habe gehört, dass er schon Gebote auf mein Zimmer annimmt und plant, meine weltlichen Besitztümer meistbietend zu versteigern.«

»Nur die Kleider, wenn du nicht innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne zurückkommst«, entgegnete der Firbolg-König so freundlich er konnte. »Ich will ja nicht, dass das Zeug den Berg verstopft.«

»Ich komme zurück, und ich werde euch so oft wie möglich mit der Postkarawane eine Nachricht senden«, versprach Rhapsody, während sie ihren Tornister aufsetzte. »Jetzt, da die Boten aus den Provinzen regelmäßig auch in Ylorc eintreffen, müsste das ja ohne weiteres klappen.«

»Selbstverständlich. Ich bin sicher, dass sich direkt bei der Drachenhöhle eine Haltestelle für die Postkarawane befindet«, erwiderte Achmed, und sein Sarkasmus war unüberhörbar.

»Fang bloß nicht an«, warnte ihn Rhapsody und warf einen Blick zu Jo hinüber, die mit Ashe plauderte.

»Nein«, stimmte Achmed ihr zu. »Ich wollte dir nur ein kleines Abschiedsgeschenk bringen.«

Damit überreichte er ihr ein eng zusammengerolltes Pergament. »Geh vorsichtig damit um. Es ist sehr alt und sehr wertvoll.«

»Falls es sich um eine neue Version von Die Verheerung des Wyrms handelt, werde ich sie mit Gewalt an dem Ort verstauen, den ich heute früh angedeutet habe.«

»Sieh es dir erst einmal an.«

Sorgfältig band Rhapsody die alte Seidenschnur auf, welche die Rolle zusammenhielt. Achmed studierte die Schriften in Gwylliams Bibliothek ausführlich, aber die Sammlung war so umfassend, dass er Jahrhunderte brauchen würde, um sich auch nur die Hälfte anzusehen. Das empfindliche Pergament bröselte leicht, als sie es aufrollte und eine sehr ordentlich ausgeführte architektonische Zeichnung zum Vorschein kam.