Nachdem Rhapsody den Plan eine Weile konzentriert betrachtet hatte, blickte sie auf und merkte, dass der Firbolg-König sie mit ebenso großem Interesse beobachtete.
»Was ist das?«, fragte sie. »Ich erkenne es nicht. Ist es ein Ort in Ylorc?«
Achmed sah zu Ashe hinüber, dann wieder zu Rhapsody und trat schließlich ein wenig näher an sie heran. »Ja, vorausgesetzt, er existiert wirklich. Es war Gwylliams Meisterstück, das Kronjuwel seiner Vision für den Berg. Ich weiß nicht, ob er dazu gekommen ist, es zu bauen, oder nicht. Er nannte es das Loritorium.«
Rhapsodys Handflächen wurden feucht. »Das Loritorium?«
»Ja, das dazu gehörige Schriftstück beschreibt es als Anbau, als absichtlich verborgene Stadt, einen Ort, an dem altes Wissen aufbewahrt wurde. Dort sollten eines Tages die reinsten Formen elementarer Macht, in deren Besitz sich die Cymrer befanden, untergebracht und ein großes Konservatorium eingerichtet werden, in dem man sie studieren konnte. Ich glaube, das Schwert, das du trägst, hätte zu den geplanten Ausstellungsstücken gehören können, wenn man sich die Dimensionen der Schaukästen und einige der Notizen anschaut.«
Rhapsody drehte die Schriftrolle um. »Ich sehe keine Worte. Woher weißt du das alles?«
Achmed nickte in Ashes Richtung und senkte die Stimme noch mehr. »Ich bin kein Narr; ich habe den Text sicherheitshalber in der Schatzkammer gelassen. Schließlich habe ich dir oft genug gesagt, dass ich ihm nicht traue. Außerdem wusste ich nicht, ob der Morgentau die Schriftstücke womöglich beschädigt.
Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, wurde das Loritorium nie für die cymrischen Bewohner von Canrif eröffnet. Womöglich hat Gwylliam den Plan nicht in die Tat umgesetzt oder jedenfalls nicht vollendet. Vielleicht hat er aber auch nur ein paar seiner engsten Ratgeber eingeweiht. Wer weiß?
Das Faszinierendste ist die Anlage des Ganzen, jedenfalls diesen Karten zufolge. Anscheinend ließ man schon bei der Planung allergrößte Sorgfalt walten, vor allem auch für entsprechende Schutzvorrichtungen, sowohl außen als auch innen. Ich bin nicht sicher, ob es für Gwylliam wichtiger war, die Schätze vor den Cymrern oder die Cymrer vor den Schätzen zu beschützen.«
Rhapsody schauderte. »Hast du eine Ahnung, was außer der Tagessternfanfare sonst noch dazu gehört haben könnte?«
»Nein, aber ich habe vor, es herauszufinden. Während du weg bist, werden Grunthor und ich ein paar der cymrischen Ruinen in Augenschein nehmen die Teile von Canrif, die zuletzt gebaut und zuerst zerstört wurden, als die Bolg den Berg überrannten. Wir haben schon ein paar Hinweise entdeckt, was das Loritorium gewesen sein könnte. Es verspricht eine faszinierende Entdeckungsreise zu werden, wenn wir es finden. Liegt dir etwas daran?«
»Aber selbstverständlich«, flüsterte Rhapsody heftig, verärgert über sein Schmunzeln.
»Welche Benennerin würde sich nicht für einen solchen Ort interessieren?«
»Dann bleib hier«, schlug Achmed gespielt unschuldig vor. »Es wäre bestimmt besser, wenn du mit von der Partie wärst. Grunthor und ich, Einfaltspinsel, die wir nun einmal sind, verursachen womöglich irgendwelchen Ärger oder zerstören etwas von historischer Bedeutung ... wer weiß, vielleicht gar ein einmaliges Stück uralter Weisheit.« Er lachte, als er sah, wie sich Rhapsodys Wangen vor Wut röteten. »Nun gut, wir warten auf dich. Wir suchen das Loritorium und geben dir genügend Zeit wiederzukommen. Wenn du nicht innerhalb der Zeit zurück bist, über die wir gesprochen haben, fangen wir ohne dich an. Einverstanden?«
»Einverstanden«, antwortete sie. »Aber du brauchst mir keinen zusätzlichen Anreiz für meine Rückkehr zu geben, Achmed. Ob du es glaubst oder nicht, ich wünsche es mir selbst.«
Der Firbolg-König nickte. »Hast du noch den Dolch aus der Zeit, in der du auf den Straßen von Serendair gelebt hast?«
Rhapsody warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Ja, warum?«
Nun verschwand die letzte Spur eines Lächelns von Achmeds Gesicht. »Wenn du dich mit Ashe in einer kompromittierenden Lage wieder findest, nimm den Dolch, um ihm die Eier abzuschneiden, und nicht das Schwert. Die Tagessternfanfare wird die Wunde ausbrennen, wie du es ja schon selbst gesehen hast. Aber wenn es zu einem solchen Notfall kommt, dann sollte er möglichst rasch verbluten.«
»Danke«, entgegnete Rhapsody ehrlich. Sie wusste, dass die grausamen Worte ein Ausdruck echter Sorge waren, und breitete die Arme aus. Achmed erwiderte ihre Umarmung rasch und verlegen und sah dann auf sie herab.
»Was ist das da in deinen Augen?«, wollte er wissen. »Du weinst doch nicht etwa, oder? Du kennst das Gesetz.«
Rhapsody wischte sich hastig mit der Hand übers Gesicht. »Sei still«, erwiderte sie. »Du kannst das Gesetz gern in dieselbe Körperöffnung stecken wie Die Verheerung des Wyrms; bei dir ist bestimmt genügend Platz für beides. Nach deiner eigenen Definition müsstest du eigentlich König der Cymrer sein.« Achmed schmunzelte, als Rhapsody sich umwandte und zu Jo und Ashe hinüberging.
»Bist du bereit?«, fragte Ashe und nahm seinen glatt geschnitzten Wanderstab in die Hand.
»Ja«, antwortete Rhapsody und umarmte Jo noch ein letztes Mal. »Pass auf dich auf, Schwester, und auch auf deine beiden großen Brüder.« Das Mädchen verdrehte die Augen;
Rhapsody wandte sich wieder an Ashe. »Lasst uns gehen, ehe ich noch etwas zu Achmed sage. Ich möchte, dass das Letzte, was ich ihm sage, genauso gemein ist wie das, was er zu mir gesagt hat.«
Ashe kicherte. »Das ist ein Wettbewerb, auf den ich mich lieber nicht einlassen möchte«, meinte er, während er die Riemen seines Tornisters überprüfte. »Ich glaube, du würdest jedes Mal verlieren.«
Als sie und Ashe den Gipfelgrat erreicht hatten, drehte sich Rhapsody noch einmal um und schaute nach Osten in die aufgehende Sonne, die sich eben anschickte, über den Horizont zu klettern. Sie beschirmte die Augen und fragte sich, ob die drei langen Schatten wirklich die Silhouetten jener Lebewesen waren, die sie auf der ganzen Welt am meisten liebte, oder nur der hohle Widerschein von Felsen und Klüften, die sich unheimlich gen Himmel reckten. Dann kam sie zu dem Schluss, dass sie einen der Schatten hatte winken sehen; ob sie Recht hatte oder nicht, war ohnehin einerlei.
»Schau mal«, sagte Ashe und weckte sie mit seiner angenehmen Baritonstimme aus ihren Träumereien. Rhapsody wandte sich um und folgte mit dem Blick seinem Fingerzeig in Richtung einer anderen Schattenreihe, noch meilenweit entfernt, am Rand der Steppe, wo das Tiefland in die felsigere Ebene überging.
»Was ist das?«, fragte sie. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte den Staub um sie herum auf und peitschte ihr das Haar ins Gesicht. Rasch zog sie den Umhang enger um ihre Schultern.
»Sieht aus wie eine Karawane, denke ich«, meinte Ashe nach kurzer Überlegung. Rhapsody nickte. »Gesandte mit ihrem Tross«, sagte sie leise. »Sie kommen, um Achmed ihre Aufwartung zu machen.«
Ashe schauderte; selbst unter seinem Nebelumhang war das Zittern sichtbar. »Ich beneide sie nicht«, stellte er scherzhaft fest. »Sie werden mit ihren Vorstellungen von Protokoll und Etikette wahrlich schwer ins Schleudern kommen. Sollen wir?« Er blickte nach Westen, über das Tal hinweg, in dem der Schnee taute, und die weite Ebene jenseits der Bergausläufer. Rhapsody wandte ihren Blick erst einen Augenblick später gen Westen. In ihrem Rücken stieg die Sonne auf und warf ihre goldenen Lichtstrahlen in den grauen Dunst, der sich unter ihnen erstreckte. Im Kontrast dazu bewegte sich die ferne Reihe schwarzer Gestalten durch triste Schatten.
»Ja«, sagte sie und rückte ihren Tornister zurecht. »Ich bin so weit.« Ohne einen Blick zurück folgte sie ihm den Westhang der letzten Klippe hinunter; es war der Beginn ihrer langen Reise zur Höhle der Drachin.
In der Ferne blieb die Gestalt eines Mannes, berührt von einem dunkleren, unsichtbaren Schatten, einen Augenblick stehen, blickte hinauf in die Hügel und setzte dann seinen Weg ins Reich der Firbolg fort.