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Rhapsody und Ashe gingen um den Brunnen herum und blieben bei den Wachen an der großen Tür stehen. Nachdem sie einen erklecklichen Geldbetrag bezahlt hatten, wurde ihnen die Tür geöffnet, und sie durften ins Allerheiligste eintreten. Mit der Eintrittsgebühr, so erklärte man ihnen, werde für den Fortbestand des Orakels gesorgt. »Ob Manwyn wohl darüber Bescheid weiß?«, meinte Ashe laut zu Rhapsody.

Der Raum hinter der Zedernholztür war riesig, erhellt durch das Licht, das durch eine Reihe kleiner Fenster in der Kuppel einfiel, und zahllose Kerzen. In der Mitte des Raums befand sich, gefährlich nah am Rand eines großen offenen Brunnens, ein Podest. Darauf saß mit übereinander geschlagenen Beinen eine Frau, bei der es sich um Manwyn handeln musste: groß, dünn, rosiggoldene Haut, feuerrotes Haar mit grauen Strähnen. Auf ihrem Gesicht erkannte man unschwer die Falten des mittleren Lebensalters; ihr Lächeln war seltsam und irgendwie beunruhigend. In der linken Hand hielt sie einen kunstvoll verzierten Sextanten, und sie war ganz in grüne Seide gekleidet.

Doch es waren die Augen der Seherin, die Rhapsody faszinierten. Sie wirkten noch weniger menschenähnlich als die von Ashe, und wenn man hineinsah, blickte einem das eigene Spiegelbild entgegen. Ohne Pupille, ohne Iris, ohne Lederhaut, die ihnen irgendwelche Konturen verliehen, waren sie Spiegel, vollkommene silberne Spiegel. Rhapsody hatte das Gefühl, in zwei Quecksilberkugeln zu schauen, und sie bemühte sich, nicht allzu sehr zu starren. Manwyn lächelte.

»Sieh in den Brunnen«, sagte sie. Ihre Stimme war ein unmelodisches Krächzen, das Rhapsody an der Schädeldecke schmerzte. Rasch tauschte sie einen Blick mit Ashe, der nickte. Seite an Seite näherten sie sich dem Podest.

»Nein, du nicht«, fauchte Manwyn und funkelte Ashe wütend an. »Du musst warten. Die Zukunft verbirgt sich vor dem, der in der Gegenwart unsichtbar bleibt.« Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, spuckte sie verächtlich in seine Richtung aus. Rhapsody schluckte, ging aber weiter auf den Brunnen zu. Sie dachte daran, was Llauron ihr über Manwyn erzählt hatte: dass sie die labilste der Seherinnern sei, die Verrückteste. Obwohl sie nicht lügen konnte, war es manchmal schwer zu unterscheiden, wann es sich bei ihren Sprüchen um echte Prophezeiungen handelte und wann/um die Phantasien eines verwirrten Verstandes. Außerdem waren ihre Worte zuweilen doppeldeutig, oder sie besäßen verborgene Bedeutungen, sodass man sich nicht wirklich auf sie verlassen konnte. Aber es gab keine bessere Möglichkeit, um etwas über die Zukunft zu erfahren, und für diejenigen, die ihren Tempel aufsuchten, war sie oft die letzte Zuflucht. Wie jeder andere Ratsuchende hoffte auch Rhapsody, dass Manwyn heute einen vernünftigen und ausgeglichenen Tag hatte. So trat sie an den Rand des Brunnens, wappnete sich innerlich und blickte hinein. Ein gähnender Abgrund tat sich im Boden vor ihr auf, scheinbar ohne Grenzen, bodenlos. In der Dunkelheit war es ziemlich gefährlich, sich ihm zu nähern, denn die Ränder waren ungleichmäßig und im dämmrigen Licht schwer zu erkennen. Die Seherin lachte gackernd und zeigte zu der dunklen Kuppel empor.

Zum ersten Mal blickte Rhapsody hinauf und sah, dass die Kuppel schwarz war wie die Nacht, entweder durch einen architektonischen Trick oder durch Magie. Sie war über und über mit Sternen bedeckt vielleicht auch nur mit deren Abbildern, die blinkten, während dunstige Wolkenschleier an ihnen vorüberzogen. Rhapsody spürte, wie der Wind an ihrem Umhang zerrte, und wusste auf einmal, dass sie sich nicht mehr im Tempel befand, sondern draußen im Freien, am einsamsten Punkt der Nacht, mutterseelenallein mit der Seherin. Eine Sternschnuppe sauste über den Himmel, der Wind wurde stärker und peitschte ihr ins Gesicht, i »Rhapsody.« Ashes Stimme unterbrach ihre Träumerei; sie sah sich um und konnte ihm Halblicht des Tempels vage die Umrisse seines Umhangs ausmachen. Als sie sich zu Manwyn umwandte, war alles wieder so wie vorhin, als sie eingetreten waren, nur sah die Prophetin jetzt verärgert aus. Sie hielt den Sextanten ans Auge, deutete wieder in die dunkle Nachtkuppel empor und deutete dann auf den Brunnen.

»Schau hinein, um Zeit und Ort zu finden, die vorbestimmt sind«, sagte sie. Rhapsody holte tief Luft; sie hatte noch nicht einmal ihre Frage gestellt. Dann starrte sie in den Abgrund hinunter, wo sich ein Bild zu formen begann. Als es klarer wurde, erkannte sie eine Lirin-Frau mit grauem Gesicht, offensichtlich von Schmerzen gepeinigt, hochschwanger. Sie war gerade stehen geblieben, um sich auszuruhen, und hielt sich mit der Hand den großen, runden Bauch. In der Kuppel war ein kratzendes Geräusch zu hören, und Rhapsody blickte empor. Die Sterne hatten sich auf einen anderen Längen und Breitengrad verschoben, und sie prägte sich ihre Position genau ein. Zweifellos zeigte Manwyn ihr den Ort, an dem sie diese Frau finden würde.

»Wann, Großmutter?«, fragte sie ehrerbietig. Manwyn lachte, ein wildes, schreckliches Kichern, das Rhapsody schaudern ließ.

»Eine Seele geht, eine Seele kommt, in elf Wochen von dieser Nacht heute«, antwortete sie, als das Bild im Brunnen verschwand. Manwyn starrte auf etwas hinter Rhapsody, und als diese sich umwandte, sah sie Ashe näher kommen, zum ersten Mal mit zurückgeworfener Kapuze. Ein Lächeln breitete sich langsam auf dem Gesicht der Seherin aus, triumphierend, aber auch ein bisschen grausam. Sie sah Ashe direkt an, aber als sie zu sprechen begann, richtete sie ihre Worte weiterhin nur an Rhapsody.

»Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.«

Rhapsody begann zu zittern. Jetzt verstand sie, was Ashe mit seiner Warnung vor vagen Prophezeiungen gemeint hatte. Bezog sich Manwyn auf die Lirin-Frau oder auf sie? Obgleich der Kontext Ersteres nahe legte, deutete die Klarheit in ihrer Stimme auf das andere hin. Sie wollte nachfragen, brachte aber kein Wort heraus.

»Was soll das bedeuten?«, wollte Ashe wissen. So wütend hatte Rhapsody ihn noch nie erlebt.

»Was für ein Spiel spielst du, Manwyn?«

Manwyns Hände schössen hinauf zu ihrem flammend roten Haar, ihre Finger bohrten sich in die ungepflegten Locken und zwirbelten sie zu langen verknoteten Strähnen. Lächelnd starrte sie zur Decke, summte eine wortlose Melodie und warf Ashe dann einen Blick zu, so direkt es mit ihren einfarbigen Augen eben ging.

»Gwydion ap Llauron, deine Mutter ist gestorben, als sie dich zur Welt brachte, aber die Mutter-Meiner Kinder wird bei ihrer Geburt nicht sterben.« Dann brach sie in wahnsinniges Gelächter aus.

Ashe berührte Rhapsodys Schulter. »Machen wir, dass wir hier wegkommen«, meinte er mit leiser Stimme. »Hast du erfahren, was du wissen wolltest?«

»Ich bin nicht sicher«, entgegnet Rhapsody. Ihre Stimme zitterte, wenngleich sie die Angst nicht verspürte, die sie deutlich darin vernahm.

»Gwydion, hast du deinem Vater Lebewohl gesagt? Er stirbt in den Augen aller, um zu leben, wo keiner ihn sieht; du spielst ein doppeltes Spiel, dennoch wirst du von seinem lebendigen Tod profitieren und auch unter ihm zu leiden haben. Weh dem Menschen, der für den Mann lügt, welcher ihn den Wert der Wahrheit gelehrt hat, Gwydion; du bist es, der den Preis für seine neu gewonnene Macht bezahlen wird.«

»SIKLERIV!«, fauchte Ashe mit einer mehrtönigen Stimme, die Rhapsody noch nie bei ihm gehört hatte, und das Wort drang durch sie hindurch wie ein Messer. Aus irgendeinem Grunde wusste sie, dass es »Ruhe!« bedeutete, und es klang fast wie ein übles Schimpfwort. Vermutlich war es die Drachensprache.

Ashe war rot angelaufen, und Rhapsody sah, wie die Ader auf seiner Stirn zu pulsieren begann.

»Kein Wort mehr, du wyrmzüngige Wahnsinnige!«, brüllte er.

Rhapsody überlief es kalt, denn sie spürte den Zorn des sich aufbäumenden Drachen. Tödlich ruhig war er, mit einer listigen, gebieterischen Energie, die ihre Füße und Hände taub machte. Plötzlich wurde ihr klar, dass auch in Manwyns Adern Drachenblut floss. Ihr Herz pochte, und sie nahm Ashes Hand.