»Lass uns gehen«, flüsterte sie drängend und zog ihn am Arm. Er widersetzte sich, offensichtlich kurz davor, sich auf den Kampf zweier starker Willen einzulassen. Rhapsody überkam Panik, wenn sie nur daran dachte. Manwyn erhob sich auf die Knie und stieß ein Geheul aus, das die Grundfesten der Rundhalle erschütterte, sodass Steinbrocken und Staub von der Decke fielen.
Die Augen noch immer auf das kreischende Orakel gerichtet, umfasste Ashe Rhapsodys Hand fester. Stück für Stück fühlte sie ihn entgleiten, völlig absorbiert von seiner Gegnerin, die jetzt wild auf ihrem Podest über dem bodenlosen Abgrund hin und her schwankte. Die Luft wurde immer dicker von Staub und Statik, Rhapsody konnte kaum atmen. Unter ihren Füßen bebte die Erde, und das Firmament der Kuppel schien in Flammen aufgehen zu wollen. Noch einmal zerrte Rhapsody mit aller Kraft an Ashe, aber sein Widerstand war noch größer geworden. Da holte sie tief Luft und sang seinen Namen, ein tiefer, leiser Ton, untermalt von Manwyns ohrenbetäubendem, abscheulichem Kreischen. Der Klang erfüllte den Rundbau, übertönte das Geheul, und Manwyn erstarrte. Ashe blinzelte, und in diesem Augenblick schleifte Rhapsody ihn aus dem Raum, verfolgt von Manwyns hysterischem Gelächter, das in ihren Ohren widerhallte.
Erst auf halbem Weg zum Stadttor hörten sie auf zu rennen. Ashe fluchte leise in zahlreichen verschiedenen Sprachen und Dialekten vor sich hin. Zwar versuchte Rhapsody, ihn zu ignorieren, fand aber seine Schimpfkanonade auf widerwärtige Art anziehend. Am Rand eines sehr großen ausgetrockneten Brunnens machten sie Halt und setzten sich, atemlos in der feuchten Hitze. Rhapsody erstickte fast unter ihrem Umhang und zitterte vor Anstrengung. Schließlich blickte sie auf und sah Ashe wütend an.
»War das wirklich nötig?«
»Sie hat angefangen. Ich habe nichts getan, um sie gegen mich aufzubringen.«
»Nein«, räumte Rhapsody ein, »das hast du wirklich nicht. Aber warum hat sie dich dann angegriffen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Ashe, zog seinen Wasserschlauch hervor und bot ihn ihr an.
»Vielleicht hat sie sich bedroht gefühlt; Drachen sind oft unberechenbar.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte sie, nahm einen großen Schluck aus dem Schlauch und gab ihn Ashe zurück. »Nun, das wäre überstanden. Allerdings muss ich sagen, je mehr ich von deiner Familie kennen lerne, desto weniger mag ich sie.«
»Und dabei bist du noch nicht einmal meiner Großmutter begegnet«, meinte Ashe und lächelte zum ersten Mal. »Das ist ein unvergleichliches Erlebnis. Hoffentlich taucht sie nicht beim Rat der Cymrer auf.«
Rhapsody schauderte. »Ja, hoffen wir es. Und was machen wir jetzt?«
Ashe beugte sich zu ihr und küsste sie, was ihm einen amüsierten Blick von ein paar vorbeischlendernden Bettlerinnen einbrachte. »Gehen wir einkaufen.«
»Einkaufen? Du machst Witze.«
»Aber nein. Yarim hat ein paar wunderbare Basare und einen Gewürzhändler aufzuweisen, dessen Bekanntschaft sich für dich bestimmt lohnt, wo du derlei Dinge doch so schätzt. Ich möchte gern etwas kaufen, was ich bei unserem Abschiedsessen tragen kann, und vielleicht auch noch ein paar ungewöhnliche Zutaten für unser Essen. Außerdem kann ich mir kaum vorstellen, dass du dir eine Gelegenheit zum Einkaufen entgehen lässt.«
Rhapsody lachte. »Ja, das stimmt«, gab sie zu. »Ich habe gehofft, ein paar nette Präsente für meine Enkel zu finden und vielleicht auch ein Geburtstagsgeschenk für Grunthor. Was meinst du, worüber er sich freuen würde?«
Ashe erhob sich, reichte ihr die Hand und half ihr auf. »Ich glaube, er würde dich gern in einem weit ausgeschnittenen, rückenfreien roten Kleid sehen.« Rhapsody musterte ihn.
››oh, richtig, tut mir Leid, da habe ich etwas verwechselt das Ansehe ich mir. Also Grunthor, hmmm. Sammelt er Souvenirs von seinen Heldentaten?«
Rhapsody schauderte. Schon seit jeher fand sie den Brauch widerlich, Körperteile von besiegten Feinden aufzubewahren.
»Manchmal.« »Na, wie wäre es dann mit einer hübschen Truhe für seine Trophäen?«
»Nein, ich glaube, das lieber nicht.« »Ach komm schon, sei ein bisschen erfinderisch. Welche Form würde sich eignen? Ich meine, sammelt er Köpfe? Dann könntest du ihm eine Garderobe mit Hutständern besorgen.«
Rhapsody dachte nach. »Nein, er sammelt keine Köpfe, es wäre ihm zu mühsam, sie abzuschneiden. Ich denke, eine Zigarrenkiste wäre eher geeignet.« Sie sah, wie sich ein amüsierter und zugleich angeekelter Ausdruck über sein Gesicht ausbreitete. »Nun, es war deine Idee.«
»Richtig.« Inzwischen hatten sie sich auf den Weg zu dem belebteren Viertel der Stadt gemacht, zu dem anscheinend auch die meisten anderen Passanten unterwegs waren.
»Rhapsody, ich muss dich um einen Gefallen bitten.« »Aber gern.«
»Sag das lieber nicht so schnell«, entgegnete er ernst. »Ich gehe davon aus, dass du es genauso ungern hörst, wie ich dich darum bitte.«
Sie seufzte. »Na gut. Worum geht es?« Er blieb stehen und sah ihr ins Gesicht. »Vielleicht erscheint es dir unsinnig. Vorhin hat Manwyn etwas gesagt, was du eigentlich nicht hören solltest, nicht weil ich es vor dir geheim halten will, sondern weil es eine große Gefahr für deine Sicherheit darstellt, für deine eigene und die einiger anderer Leute.« Er ergriff ihre Hände. »Hast du so viel Vertrauen zu mir, dass du es wagen würdest, dir die Erinnerung von mir wegnehmen zu lassen, nur für eine kleine Weile? Bis es wieder sicher ist?«
»Was faselst du da?«, fragte sie ärgerlich. »Gehört das auch zu deinem ganzen cymrischen Unsinn?«
»In gewisser Weise, ja. Aber es geht mir mehr um die Gefahr für dich als um sonst etwas, wenn ich dich darum bitte, denn ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt. Glaubst du mir das?«
Wieder seufzte sie tief. »Ich denke schon.«
Ashe lachte auf. »Wie überzeugend!«
»Nun, was erwartest du, Ashe ? entgegnete Rhapsody mit wachsendem Ärger. »Zuerst muss ich mich mit einer exzentrischen Prophetin herumschlagen, die in Rätseln spricht, und dann muss ich mir auch noch anhören, wie du dasselbe tust? Was willst du denn? Was meinst du damit, dass du mir die Erinnerung wegnehmen willst?«
»Du hast Recht«, erwiderte er, und seine Stimme wurde sanfter. »Ich weiß, dass das für dich unerträglich ist, Rhapsody. Deine Erinnerungen sind eine Art Schatz. Als solche kann ich sie sammeln, aber nur mit deiner Zustimmung. Sie können in einem reinen Gefäß aufbewahrt werden, so ähnlich, wie du es mit meiner Seele getan hast, bis zu dem Zeitpunkt, an dem es für dich nicht mehr gefährlich ist, sie wieder zu dir zu nehmen.«
Rhapsody rieb sich die Schläfen. »Woher soll ich wissen, was ich zurücknehmen muss, wenn ich mich gar nicht mehr daran erinnere?«
»Ich werde es dir ins Gedächtnis rufen. Und ich werde dir ein Zeichen geben, falls mir etwas zustößt. Was ich vorschlagen möchte, ist Folgendes: In der Nacht, in der wir voneinander Abschied nehmen, werde ich dir alles erklären, was du im Augenblick noch nicht verstehst. Ich werde dir nichts vorenthalten. Wir setzen uns in die Laube in Elysian können wir offen miteinander sprechen, und ich werde dafür sorgen, dass ein Gefäß zur Verfügung steht, das die Erinnerung an diese Nacht und an das Gespräch mit Manwyn aufnimmt und sicher verwahrt.«
»Das kann ich nicht«, entgegnete sie. »Tut mir Leid. Ich brauche die Information, die sie mir gegeben hat.«
»Ich meine nur das, was sie gesagt hat, nachdem sie dir deine Information gab«, erklärte Ashe. »Den Rest sollst du behalten. Bitte, Rhapsody, versteh doch, dass ich so etwas nicht von dir verlangen würde, wenn es nicht notwendig wäre. Hör dir an, was ich zu sagen habe, wenn wir zurückkommen. Wenn du mir deine Erlaubnis dann nicht geben willst, beuge ich mich deinem Entschluss. Aber bitte ziehe es wenigstens in Erwägung.«
»Nun gut«, stimmte sie zögernd zu. »Aber jetzt lass uns einkaufen gehen.« Sie atmete erleichtert auf, als der Teil seines Gesichts, den sie unter der Kapuze sehen konnte, sich zu einem Lächeln entspannte. Sie war nicht sicher, was schlimmer war die Aussicht, dass er sie bald verlassen würde, oder noch eine Täuschung mitzumachen, was dem cymrischen Volk eingeboren zu sein schien. Doch im Grunde spielte es keine Rolle. Beide Probleme würden demnächst ausgestanden sein.