Jetzt hielt Ashe es nicht mehr aus. Er nahm ihr schönes Gesicht in die Hände und küsste sie, mit all dem wortlosen Trost, den er in seinen Kuss legen konnte. Ihre Lippen waren warm, aber sie erwiderten den Kuss nicht; sanft zog sie seine Hände von ihrem Gesicht und drückte sie freundlich.
»Bist du jetzt bereit?«, fragte er und nickte zur Laube hinüber. Rhapsody seufzte. »Ja, ich denke schon«, antwortete sie und stand auf. »Lass mich nur schnell meine Harfe holen, die brauche ich für die Zeremonie.«
»Das kann warten«, entgegnete Ashe. »Zuerst unterhalten wir uns. Dann machen wir die Benennungszeremonie. Ich muss dir etwas sagen, und eine Bitte habe ich dann auch noch.«
»Sehr gut«, meinte sie. »Ehrlich gesagt geht es mir genau so.«
Von der Laube aus hatte man einen atemberaubenden Blick über ganz Elysian, und von den kühlen Marmorbänken konnte Rhapsody nicht nur ihren gesamten Garten sehen, der sich auf den langen Schlaf des nahenden Winters vorbereitete, sondern auch die Hütte mit dem wuchernden Efeu, der sich allmählich zu einem düsteren Braun verfärbte, und in der Ferne den rauschenden Wasserfall, der stärker wurde, weil die Regenfälle die Bäche anschwellen ließen. Der See, der ihre geliebte Insel wie mit einer Umarmung umschloss, brodelte unter der Heftigkeit des herabstürzenden Wassers.
Zum ersten Mal dieses Jahr spürte Rhapsody Kälte in der Luft; der Winter nahte. Bald würde der Garten still sein, und die Vögel, welche einen Weg nach hier unten gefunden und in den Bäumen genistet hatten, würden wieder verschwinden. Das verborgene Paradies würde seine Farbenpracht einbüßen und sich zum Überwintern bereit machen. Rhapsody fragte sich, wie viel von dem Wärmeverlust in Land und Luft dem jährlichen Klimawechsel zuzuschreiben war und wie viel davon an dem verlöschenden Feuer in ihren Seelen lag, in denen die Liebe starb. Bald schon würde Elysian in seinen Winterschlaf versinken und dort, wo einst Pracht und Überfluss geherrscht hatten, würde es nur noch um die schlichte Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen gehen. Genau wie bei ihr selbst.
»Rhapsody?« Ashes Stimme holte sie aus ihrer Grübelei in die Wirklichkeit zurück. Sie blickte auf. »Ja? Oh, entschuldige. Was muss ich jetzt tun?«
Ashe setzte sich neben sie auf die Steinbank und streckte die Hand aus. In ihr lag eine gigantische Perle, wässrigweiß wie Milch, von opaleszentem Schwarz umgeben. »Das ist ein alter Kunstgegenstand aus dem Land deiner Geburt, das jetzt unter den Wogen des Ozeans liegt«, erklärte er mit ehrfürchtiger Stimme. »Früher hat die Perle die Geheimnisse des Meeres enthalten, und auch an Land ist ihr ein solches anvertraut worden. Benenne diese Perle, Rhapsody, und sag ihr, sie soll die Erinnerung an diese Nacht für dich aufbewahren, bis es für dich sicher ist, sie zurückzuerhalten.«
Rhapsody nahm die Perle in beide Hände. Obgleich sie porös aussah, war ihre Stärke zu spüren, undurchdringlich, Schicht um Schicht fest gewordener Tränen des Ozeans. Sie schloss die Augen und sang das Benennungslied, wobei sie die Melodie den Schwingungen der Perle anpasste, bis sie vollkommen übereinstimmten.
Dann schlug sie die Augen wieder auf. Die Perle hatte zu schimmern begonnen, und ihr Licht erfüllte die Laube. Sie war durchsichtig, und in ihrer Mitte befand sich der hellste Punkt, der durch die nun erkennbar gewordenen Schichten hindurchschimmerte. In das Lied flocht Rhapsody den Befehl, um den Ashe sie gebeten hatte: dass die Erinnerung an den verbleibenden Rest der Nacht in der Perle aufbewahrt werden sollte. Als das Lied zu Ende war, gab Rhapsody die schimmernde Perle zurück. Ashe erhob sich von der Bank, ging zu dem leeren goldenen Käfig und legte die Perle hinein. Dann setzte er sich wieder neben Rhapsody und nahm ihre Hände, aber ehe er etwas sagen konnte, hielt sie ihn auf.
»Warte einen Augenblick, bitte, Ashe«, sagte Rhapsody. »Ehe du mir irgendetwas erzählst, möchte ich dich noch ein letztes Mal anschauen.« Ihre Augen musterten ihn durchdringend, nahmen seinen Blick in sich auf, die Umrisse seines Gesichts, die Farbe seines Haars, sein Äußeres in der hübschen Seemannsuniform mit dem dazugehörigen Umhang. Dann schloss sie die Augen und atmete tief, während sie versuchte, seinen Duft einzusaugen, die Art, wie er die ihn umgebende Luft formte. Sie zeichnete sozusagen ein Bild von ihm, das ein Leben lang Bestand haben musste. Schließlich senkte sie die Augen.
»In Ordnung«, sagte sie. »Ich bin bereit.«
»Sehr gut«, meinte Ashe mit einem nervösen Lächeln. »Rhapsody, was ich dir zu sagen habe, ist nicht angenehm für mich, und du wirst es auch nicht hören wollen. Ehe wir uns an die Arbeit machen, habe ich noch ein letztes Anliegen. Bitte hör mich an.«
»Selbstverständlich. Worum geht es denn?«
Er holte tief Atem; seine Stimme klang sanft. »Aria, ich weiß, dass du mir nie eine Bitte abgeschlagen hast, und du hast mir so oft deine Gunst gewährt, dass es unglaublich erscheint, wenn ich mich mit einem weiteren Anliegen an dich wende, aber ich muss es tun. Es ist das Wichtigste, um das ich dich jemals bitten werde, sowohl für mich als auch, mit ein wenig Glück, für das cymrische Volk. Wirst du es in Erwägung ziehen, bitte?«
Rhapsody sah ihm in die Augen; sie glänzten, und er schien den Tränen nahe. Die Sternformationen, welche die seltsamen vertikalen Pupillen umgaben, glühten intensiver, als sie es je gesehen hatte. Sie schloss die Augen und prägte das Bild für immer in ihr Gedächtnis ein. In den einsamsten Nächten ihres restlichen Lebens würde sie sich ihn so vorstellen, wie er jetzt gerade aussah. Sie wusste, dass die Erinnerung ihr Trost spenden würde.
»Natürlich, natürlich werde ich deine Bitte in Erwägung ziehen«, antwortete sie und drückte seine Hände. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich immer dein Freund und Verbündeter sein werde, Ashe. Du kannst mich um alles bitten, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen.«
Er lächelte, drehte ihre Hand in seiner um und küsste sie. »Versprochen?«
»Ja.«
»Gut. Dann heirate mich.« Seine Worte waren aus seinem Mund, noch bevor sein Knie den Boden vor ihr berührte.
»Das ist nicht komisch, Ashe«, sagte Rhapsody ärgerlich. »Steh auf. Worum geht es denn wirklich?«
»Entschuldige, Rhapsody, aber das ist meine Bitte. Von Anfang an ist sie das gewesen. Ich habe keine Witze darüber gemacht oder mit dir darüber gestritten oder das Thema auch nur angeschnitten, bis ich sicher war, dass du mir unvoreingenommen zuhörst, denn ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so ernst gemeint.« Er sah, wie sie blass wurde, ergriff wieder ihre Hände und preschte weiter vor, denn er wollte nicht, dass sie ihm jetzt schon eine Antwort gab.
»Ich weiß, dass du lange in dem von meinem Vater kräftig unterstützten Glauben gelebt hast, dass es eine Hierarchie gibt, zu der du deiner Herkunft wegen nicht gehörst, und dass dies irgendwie ein guter Grund ist, uns das Glück zu verweigern und dem cymrischen Volk die beste Königin vorzuenthalten, die es sich wünschen könnte. Aria, das ist nicht wahr. Die Cymrer haben vielleicht ein Familienerbrecht, aber sie sind ein freies Volk. Sie können bei dem Rat, der einberufen wird, um einen König zu krönen, jeden bestätigen oder ablehnen, der ihnen beliebt.
Ich habe keine Ahnung, ob sie mich nicht sowieso hochkant hinauswerfen, aber dann bauen wir eben zusammen die schönste Ziegenhütte, welche die Welt je gesehen hat, und unsere Tage werden gesegnet sein mit Ruhe und Frieden Vielleicht wirst du dich auch dafür entscheiden, am Hof der Lirin zu regieren, denn ich weiß, dass die Lirin sich eben das von dir wünschen werden. Dann werde ich dein ergebener Diener sein, dir nach einem Tag auf diesem unbequemen Thron Hals und Rücken massieren und dich unterstützen, wo ich nur kann, als dein treuer Gatte.