Einen Augenblick dachte Rhapsody scharf nach, denn sie wusste, dass er es todernst meinte. Es wäre einfach gewesen, irgendeinen Namen zu erfinden, in der Hoffnung, dass er sie in Ruhe lassen würde, um diesen Wirt zu suchen, von dem er da plapperte. Aber das Überleben war keine Lüge wert. Um sie herum lief die Zeit langsamer, und sie dachte an die Familie, mit der sie wieder vereint sein würde.
»Spar dir die Mühe«, antwortete sie schließlich. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, und ich werde nicht lügen, damit du mich am Leben lässt.« Sie reckte ihm die Kehle entgegen, damit er besser zustechen konnte. »Los doch.«
Einen Augenblick war Ashe wie erstarrt, dann zog er das Schwert mit einer heftigen Bewegung, bei der Wassertropfen über ihr Gesicht und ins Feuer spritzten, von ihrem Hals zurück. Die Flammen zischten zornig. Doch er starrte sie weiterhin aus seiner nebligen Kapuze heraus an. Nachdem sie seinen Blick eine Weile fest erwidert hatte, sagte Rhapsody: »Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. Vielleicht ist dein Hirn von dem Stinktier-Urin ausgetrocknet, den du Kaffee nennst.« Sie holte tief Luft und griff auf ihre Wahrheitskunde zurück, über die sie als Benennerin verfügte. »Auf alle Fälle ist dein Verhalten unverzeihlich. Ich bin keine Lügnerin und auch keine Verkörperung des Bösen. Ich weiß nicht, warum du auf mich wütend bist, aber ich habe keinen Meister, ich bin keines Menschen Hure, und ich weiß nichts von einem Wirt. Jetzt mach, dass du wegkommst. Ich werde den Drachen auch ohne dich finden.«
Ashe dachte kurz nach. »Was sollte die Bemerkung über mein Herz bedeuten?«
Gewöhnlich würde ich dir in einem solchen Fall das Herz herausreißen, obwohl es bei dir ja ganz danach aussieht, als hätte das schon jemand anderes erledigt. Rhapsody machte ein ratloses Gesicht ihre Bemerkung hatte ein Scherz sein sollen. »Dass du herzlos bist und grob. Dass du das Essen, das ich für dich zubereitet habe, schlecht machen wolltest, dass du meinen Tee ausgespuckt hast, dass du gemein warst. Du bist ein unerträgliches Schwein. Du selbst verträgst keinen Spaß, aber von anderen erwartest du es ständig. Du bist mürrisch. Soll ich weitermachen? Als ich das vorhin sagte, wollte ich dich ein bisschen necken. Jetzt allerdings nicht mehr.«
Ashes Schultern entkrampften sich, und Rhapsody hörte ein tiefes Ausatmen unter der Kapuze. Eine Weile noch starrten sie einander an. Dann senkte die Gestalt im Umhang den Kopf.
»Es tut mir sehr Leid«, sagte Ashe leise. »Dein Urteil über mich ist in allen Teilen zutreffend.«
»Da widerspreche ich dir nicht«, entgegnete Rhapsody, deren Herzschlag sich allmählich ein wenig beruhigte. »Jetzt geh. Wenn du immer noch kämpfen willst, stehe ich dir gern zur Verfügung. Ansonsten mach dich auf den Weg.«
Ashe steckte sein Schwert wieder in die Scheide. Sofort wurde es im Tal merklich dunkler. Das Feuer war im Rhythmus ihres Zorns aufgeflammt und brannte jetzt ebenfalls nieder, nachdem es in seiner Wut einiges von seinem Brennstoff verzehrt hatte.
»Wenn du möchtest, dass ich gehe, warum hast du dir dann nicht einfach einen Namen ausgedacht? Ich hätte dich hier gelassen, unversehrt. Du hast Glück gehabt, aber du bist ein großes Wagnis eingegangen.«
»Was für ein Wagnis?«, fauchte Rhapsody. »Du hast mir eine Frage gestellt. Es gab nur eine mögliche Antwort, und diese bestand nicht darin, einen Namen zu erfinden. Was, wenn ich es getan hätte und der Name dann einem Unschuldigen gehört hätte, dessen einziges Verbrechen darin bestand, dass er Pech hatte?«
Ashe seufzte. »Du hast Recht. Wir leben in schlimmen Zeiten, Rhapsody. Ich weiß, es steht dir an, mich für immer zu hassen, aber bitte, tu es nicht. Ich dachte, du wärst jemand anderes, aber das bist du nicht, und ich bitte dich um Vergebung. Viele meiner Freunde und zahllose andere Unschuldige sind durch die finstere Hand ums Leben gekommen, durch die Hand des Bösen, das all diese Überfälle verursacht. Einen Augenblick glaubte ich, du wärst es.«
»Welch ein merkwürdiger Zufall. Achmed hat dich im gleichen Verdacht.«
»Er ist klüger, als ich dachte«, meinte Ashe leise.
Rhapsody blinzelte verwundert. In seinen Worten lag eine Schärfe, die sie mitten in die Seele traf. »Was meinst du damit?«
»Nichts«, erwiderte er hastig, »gar nichts. Das war ein Missverständnis.« Seine Stimme wurde wehmütig. »Vielleicht hervorgerufen durch den Stinktier-Urin, wie du meinen Kaffee so überaus freundlich bezeichnet hast.«
Rhapsody setzte sich wieder ans Feuer. »Weißt du, Ashe, die meisten Leute tragen ihre Missverständnisse auf einer anderen Ebene aus. Meine Nachbarin hat einmal einen Teller nach ihrem Ehemann geworfen. Für gewöhnlich gehen sie nicht mit Waffen aufeinander los. Deshalb glaube ich nicht, dass das, was zwischen uns vorgefallen ist, gemeinhin als Missverständnis durchgehen würde.«
»Es tut mir sehr Leid«, entgegnete er. »Bitte sag mir, was ich tun kann, um es wieder gutzumachen. Ich schwöre, es wird nicht wieder vorkommen. Ich weiß, du glaubst mir vielleicht nicht, aber es war eine Überreaktion auf das, was überall im Land geschieht. Der Krieg kommt, Rhapsody, ich kann es fühlen. Deshalb misstraue ich jedem, selbst denen, die gar nichts damit zu tun haben so wie du.«
An seiner Stimme hörte sie, dass er die Wahrheit sprach. Sie seufzte und ließ sich ihre Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Sie konnte ihn wegjagen, konnte sich weigern, auch nur einen weiteren Augenblick in seiner Gesellschaft zu verbringen, aber dann wäre sie allein im Wald und verloren. Sie konnte sich bereit erklären, mit ihm Weiterzuziehen, aber auf der Hut bleiben, konnte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um weitere unangenehme Vorfälle zu vermeiden. Oder sie konnte ihn beim Wort nehmen.
Sie war zu müde, und so blieb ihr nur letztere Möglichkeit. »Na gut«, sagte sie schließlich.
»Vermutlich komme ich nicht drum herum, solange du versprichst, nie wieder die Waffe gegen mich zu ziehen. Schwöre es, dann vergessen wir, was vorgefallen ist.«
»Ich schwöre es«, sagte er. In seiner Stimme schwang ein Unterton des Staunens mit und noch etwas anderes, das sie nicht recht zu deuten wusste.
»Und wirf den Kaffee weg. Er verdirbt dir das Gehirn.«
Obwohl die Situation alles andere als lustig war, musste Ashe lachen. Er griff in seinen Tornister und zog den kleinen Sack hervor.
»Aber nicht ins Feuer«, rief sie hastig. »Sonst müssen wir den Wald verlassen. Vergrab ihn morgen früh mit den Abfällen.«
»In Ordnung.«
Sie warf noch eine Hand voll Holz aufs Feuer. Es brannte niedrig, anscheinend war es auch müde geworden. »Und du übernimmst die erste Schlafschicht.«
»Einverstanden.« Ashe ging hinüber zu seiner Schlafstelle, holte seine Decken hervor und kroch schnell darunter, als wollte er damit zeigen, wie fest er darauf vertraute, dass sie sich nicht an ihm rächen würde, während er schlief. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Trotz allem, was vorgefallen war, spürte Rhapsody, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie lehnte sich zurück und lauschte den nächtlichen Geräuschen des Waldes, der Musik des Windes und dem Gesang der Grillen in der Nacht. Dorndreher fluchte und spornte sein Pferd erneut an. Die orlandische Botschafterkarawane war ihnen mehrere Tage voraus, und er machte in seinen Bemühungen, sie einzuholen, keinerlei Fortschritte. Eigentlich hatte Dorndreher keinen Bedarf nach ihrer Gesellschaft und auch keinerlei Wunsch danach; im Großen und Ganzen hielt er die Botschafterklasse von Roland für eine jämmerliche Ansammlung tatteriger alter Männer, die nicht in der Lage waren, eine direkte Erklärung abzugeben, ganz zu schweigen davon, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Marionetten, dachte er säuerlich, samt und sonders. Unterwegs, dem neuen Herr der Ungeheuer ihre Ehrerbietung zu erweisen. Ihm fielen die Worte seines Meisters wieder ein, während er über den schlammigen Weg galoppierte, der in trockeneren Zeiten die orlandische Durchgangsstraße war und Roland von der Küste bis zum Rand der Manteiden zweiteilte; einst hatten die Cymrer die Straße gebaut.