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»Sie? Wer? Wer wusste es?«

»ANWYN!«, kreischte der Drache. Seine mehrtönige Stimme brachte die Wände abermals zum Erzittern.

Rhapsody warf einen Blick zur Tür. Achmed! Sie musste zur Laube laufen und Achmed rufen! Ashe ohne das Bann-Ritual zu töten wäre sinnlos.

Die Instrumente in dem Schrank aus Kirschbaumholz schepperten und rappelten; Ashe holte mit den Armen weit aus, und die Bücher stürzten aus den Regalen und fielen polternd zu Boden.

Rhapsody zog sich immer weiter in Richtung Tür zurück. Die Tränen liefen ihr ungehindert übers Gesicht, und sie wusste, dass sie die Tagessternfanfare nicht rechtzeitig erreichen konnte. Sie wünschte sich den Tod herbei und hoffte, dass das Böse, das er verkörperte, sich nicht an ihre Seele binden würde, wenn er ihr das Lebenslicht ausblies. Von der Ruhe, die sich für gewöhnlich auf sie herabsenkte, wenn sie einer Gefahr gegenübertrat, war nichts zu spüren.

Dann hielt Ashe plötzlich, wie vom Donner gerührt, inne und blickte zu ihr hinüber. Sein Gesicht fiel in sich zusammen, als er sie anschaute, mit ihren vor Angst aufgerissenen Augen, die den Tod kommen sahen und ihn annahmen. Ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf seinem Gesicht aus, und die Drachennatur zog sich blitzschnell zurück. Er bemühte sich zu sprechen, und tatsächlich war seine Stimme sanft, zitterte jedoch noch immer.

»Rhapsody.« Einen Moment konnte er nichts weiter sagen. »Rhapsody, es tut mir Leid bitte vergib mir, ich ...« Er streckte die Hände nach ihr aus und trat einen Schritt auf sie zu. Doch sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein, bleib«, sagte sie und trat ihrerseits einen Schritt zurück. »Bleib, wo du bist.«

Ashe tat es, und sein Gesicht wurde abgrundtief traurig. Dann fasste er in sein Hemd, zog einen winzigen Samtbeutel heraus und warf ihn vor ihr auf den Boden. »Aria, mach das auf, bitte.«

»Nein, rühr dich nicht vom Fleck«, sagte sie und wich einen weiteren Schritt zurück. Wieder sah sie sich um und bewegte sich langsam zum Schwertständer.

»Bitte, Rhapsody, bitte, mach ihn auf, in Gottes Namen!«, flehte er. Nun, da der Wutanfall abebbte, war er ganz bleich geworden.

»Nein«, wiederholte sie, diesmal lauter. »Bleib weg von mir. Wenn du dich bewegst, bringe ich dich um. Du weißt, dass ich nicht lüge. Also hilf mir, Ashe, stell meinen Entschluss nicht auf die Probe. Rühr dich nicht.«

Tränen rannen aus den Kristallaugen. »Rhapsody, wenn du mich jemals geliebt hast, bitte ...«

»Hör auf«, sagte sie, und nun war ihre Stimme nur noch ein böses Wispern. »Wage es nicht, dieses Wort auszusprechen. Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß nicht, was du bist.«

»Öffne den Beutel. Dann wirst du es erfahren.«

Rhapsody straffte die Schultern und sah ihm in die Augen. Die Worte, die ihre Lippen formten, waren die gleichen wie an dem Tag, als sie den Tar’afel überquert hatten.

»Habe ich mich etwa nicht deutlich genug ausgedrückt?« Inzwischen war sie langsam bis zum Schwertständer vorgerückt und griff nach der Tagessternfanfare. Ashe rührte sich nicht, aber mit ruhigerer Stimme sagte er noch einmaclass="underline" »Emily, bitte. Sieh in den Beutel.«

Rhapsody erstarrte. »Wie hast du mich eben genannt?«, fragte sie mit halb erstickter Stimme.

»Bitte, Emily. Du wirst es verstehen, wenn du in den Beutel schaust.« Er trat einen Schritt zurück, in dem Versuch, ihre Angst zu beschwichtigen.

Voller Schrecken starrte Rhapsody ihn an. Doch dann ging sie langsam, als gehorchte sie einem unhörbaren Befehl, auf den Beutel zu, der in der Mitte des Wohnzimmers lag, und bückte sich nach ihm. Mit zitternden Händen löste sie die dünne Schnur und ließ den Inhalt auf ihre Handfläche rollen. Hervor kam ein kleines Herz aus Silber, mit einer eingravierten Rose; das Lied, das den Gegenstand umgab, stammte aus einem längst untergegangenen Land, das in Rhapsodys Blut jedoch weiterlebte. Ihre Augen wanderten wieder zu Ashe zurück, dessen Gesicht sich entspannte und einen Ausdruck annahm, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte.

»Das ist mein Knopf«, flüsterte sie. »Wo hast du ihn gefunden?«

Er lächelte sie vorsichtig an, wenn er wollte sie nicht erschrecken mit der Freude, die sich in ihm ausbreitete. »Du hast ihn mir gegeben«, antwortete er.

Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während ihre Hand an ihren Hals wanderte. Ohne hinzusehen, holte sie das goldene Medaillon hervor und öffnete es. Als der Verschluss aufging, fiel eine winzige Kupfermünze heraus, mit dreizehn Kanten, seltsam geformt und poliert von jahrelangen liebevollen Berührungen.

Wieder füllten sich Ashes Augen mit Tränen. »Emily«, sagte er leise und streckte ihr abermals die Hände entgegen.

Die Welt drehte sich vor ihren Augen in einem wirbelnden Tanz von Farben und Formen, und Rhapsody sank in eine tiefe Ohnmacht.

53

Bilder flimmerten vor ihren Augen und verschwanden wieder, während Rhapsody das Bewusstsein wiederzuerlangen versuchte. Überall funkelten Augen, Drachenaugen, die auf sie herabsahen, und ihre seltsamen vertikalen Pupillenschlitze veränderten sich ständig. Schließlich kam sie wieder zu sich und konzentrierte sich auf die Decke über sich, wo die Schatten des Feuers über den schweren Holzbalken waberten. Sie blinzelte und versuchte sich aufzusetzen, aber sanfte Hände hielten sie zurück und streichelten ihr liebevoll übers Haar.

»Pssst«, machte Ashe. Während die Welt um sie herum allmählich wieder festere Formen annahm, merkte sie, dass sie auf dem Sofa im Wohnzimmer lag; im Kamin brannte leise das Feuer, ihr Kopf ruhte auf seinem Schoß. Die Schuhe waren ihr von den Füßen gefallen, und der kühle, nasse Ärmel seiner Jacke kühlte ihr die Stirn. Sie blinzelte heftiger.

»Bin ich ohnmächtig geworden?«

Er lachte leise. »Ja, aber ich werde es keinem weitererzählen.«

»Ich hatte einen sehr sonderbaren Traum«, murmelte sie und berührte verwirrt seinen weißen Hemdsärmel. Sein Lächeln wurde breiter, und er beugte sich über sie und streichelte ihren Nasenrücken.

»Es tut mir Leid, Aria, aber das war kein Traum. Das bin ich, das bin wirklich ich. Mein Herz hat es geschworen, als ich dich zum ersten Mal sah, aber ich wusste, es konnte nicht sein. Sie hat gesagt, du wärst nicht gekommen, und ich habe die ganze Zeit geglaubt, du wärst tot.«

»Anwyn. Nachdem ich aus Serendair zurückgekommen war, suchte ich dich, völlig verzweifelt. Da ging ich zu Anwyn. Ich wusste, sie hätte dich gesehen, wenn du aus der alten Welt gekommen wärst, und sie würde wissen, ob du noch lebst. Aber sie sagte, du wärst nicht angekommen, du wärst nicht auf einem der Schiffe gewesen. Und zu meinem großen Kummer musste ich ihr glauben. Wenn sie von der Vergangenheit spricht, kann Anwyn nicht lügen, ohne ihre Gabe zu verlieren. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie du dann trotzdem hierher gekommen bist.«

Rhapsody setzte sich auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und die Stirn. »Wie ich hergekommen bin? Ich weiß nicht sicher, wo ich bin, aber ich glaube, ich lebe hier.«

Ashe schlang das Bein um sie, sodass sie sich an sein Knie anlehnen konnte. Dann hielt er die kleine Münze hoch, glänzendes Kupfer, mit einer seltsamen Kantenzahl. »Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich sie bekommen habe«, sagte er nachdenklich, wie zu sich selbst. »Ich war drei oder vier, und es war ein Versammlungstag; pompöse Zeremonien und langatmige Reden und rein gar nichts Spannendes dabei. Ich war allein und langweilte mich so, dass ich dachte, ich müsste sterben, aber man erwartete ja von mir, dass ich sitzen blieb und mich anständig benahm.

Ich bekam Angst, dass mein ganzes Leben so aussehen würde dass ich nie wieder herumrennen oder spielen könnte wie meine Freunde. Es war der einsamste Moment meines ganzen bisherigen Lebens.