Und dann kam dieser alte Mann, beugte zu mir herab und lächelte freundlich. Und er gab mir ein Geschenk zwei Dreipfennigstücke. ›Kopf hoch, Junge‹, sagte er und zwinkerte mir zu ich erinnere mich ganz deutlich an dieses Zwinkern, weil ich es noch lange nachgemacht habe, ›früher oder später halten sie den Mund. In der Zwischenzeit kannst du dir das hier mal ansehen. Sie halten die Einsamkeit weg, solange du sie zusammenhältst, denn an einem Ort, an dem zwei Dinge so gut zusammenpassen, gibt es keine Einsamkeit/
Und er behielt Recht. Ich untersuchte die Münzen, versuchte die Seiten aneinander zu legen, und hatte richtig Spaß dabei. Als mein Vater kam, um mich abzuholen, hatte ich das Gefühl, als wären nur ein paar Minuten vergangen, dabei waren es viele Stunden gewesen. Von diesem Tag an trug ich die Münzen ständig bei mir, bis ich sie dir gegeben habe. Denn als ich dir begegnete, Emily, dachte ich, ich würde nie wieder einsam sein.«
Rhapsody rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen, in dem Versuch, die Kopfschmerzen zu vertreiben, die sich hinter ihren Augen eingenistet hatten. »Das war ein anderes Leben. Ich habe den Namen nicht einmal erkannt, als du ihn zum ersten Mal erwähntest.« Sie blickte auf und begegnete seinem Blick; er sah so glücklich aus, beinahe überschwänglich. »Du willst mir also sagen, dass du dass du Sam bist?«
Er seufzte tief. »Ja. Ihr Götter, wie habe ich mich danach gesehnt, dass du mich so nennst.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie, staunend.
Rhapsody machte sich los und blickte wieder in sein Gesicht. »Du? Bist du es wirklich?« Er nickte. »Du siehst aber nicht so aus.«
Ashe lachte. »Ich war damals vierzehn, was erwartest du? Seither ist einiges geschehen, unter anderem bin ich mit knapper Not dem Tod entgangen, meine Drachennatur hat sich bemerkbar gemacht und mich grundlegend verwandelt. Und übrigens siehst auch du nicht mehr so aus wie damals, Emily. Du warst das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte, aber nun, du hast dich auch verändert.« Er ließ die Finger durch ihr Haar gleiten, das ihr makelloses Gesicht umrahmte und im Schein des Feuers schimmerte wie poliertes Gold. Die smaragdgrünen Augen wanderten über sein Gesicht und versuchten, die Erinnerung an sein Gesicht mit dem in Einklang zu bringen, das sie inzwischen so gut kannte. Obgleich er sich wirklich sehr verändert hatte, bestand doch eindeutig eine Ähnlichkeit, die sie vorher nur nicht wahrgenommen hatte. Und während ihre Augen sein Bild in sich aufnahmen, stiegen Tränen in ihnen auf. Sie rang um Worte, aber es dauerte einen Augenblick, bis sie sprechen konnte.
»Warum?«, stieß sie mühsam hervor. »Warum bist du nicht zurückgekommen?«
Wieder umfasste er ihr Gesicht mit den Händen. »Ich konnte nicht«, antwortete er, und auch seine Augen waren voller Tränen. »Ich weiß ja nicht einmal, wie ich überhaupt dorthin gekommen bin. Für einen einzigen Tag wurde ich in die Vergangenheit zurückgeworfen. Ich ging die Straße nach Navarne entlang und dann war ich plötzlich in Serendair. Und nachdem wir uns begegnet waren, wäre ich liebend gern für immer bei dir geblieben, auch wenn das bedeutet hätte, dass ich hätte sterben müssen und meine ganze Welt verloren hätte, wie es ergehen sollte. Ich hätte alles aufgegeben, denn ich hatte die andere Hälfte meiner Seele gefunden.
Am nächsten Morgen, deinem Geburtstag, war ich unglaublich aufgeregt. Ich machte mich so präsentabel wie möglich, damit dein Vater mir die Erlaubnis geben würde, dich zu heiraten. Ich erinnere mich noch, wie nervös ich war, und wie glücklich, aber dann befand ich mich, genauso plötzlich und unerklärlich wie zuvor, auf einmal wieder auf der Straße nach Navarne, hier in dieser Welt.
Vor Kummer wäre ich fast verrückt geworden. Endlos suchte ich nach dir, ging zu jedem aus der Ersten Generation und fragte nach dir. Und dann sagte mir Anwyn, du wärst nicht angekommen. Da erkannte ich, dass es zu spät war, dass du tot sein musstest, seit tausend Jahren oder mehr, dass du weder MacQuieth noch sonst jemanden aus deinem Land gefunden hattest, der dir hätte helfen können.
Mein Vater verlor die Geduld und wollte mir einreden, ich hätte nur geträumt, aber ich wusste, dass das nicht stimmte, denn ich besaß ja den Silberknopf und hatte drei Tropfen von deinem Blut auf meinem Umhang gesehen, auf dem wir uns geliebt hatten. Und von diesem Augenblick an war ich wie die Münze; sonderbar, nicht dazu passend, wenig wert, ständig einsam. Seither hat es in meinem Leben keine Frau mehr gegeben, Emily, keine einzige außer dir, die ich jetzt mit dem Namen Rhapsody kenne. Wer hätte sich auch mit dir messen können? Mein Vater ließ seine Huren an mir vorbeidefilieren, in der Hoffnung, mein Herz zu erweichen, aber ich bin weggegangen und zur See gefahren, denn ich wollte die Erinnerung an das Einzige, was mir in meinem Leben jemals heilig, jemals wichtig gewesen war, nicht verraten.
Das ist alles. So habe ich gelebt, schon bevor der F’dor meine Seele zerfleischt hat. Vermutlich war sie durch deinen Verlust ohnehin zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Aber jetzt bist du hier, ihr Götter, du warst die ganze Zeit da. Aber wie bist du herübergekommen? Bist du mit der Zweiten Flotte in Manosse gelandet? Oder bist du als Flüchtling in eins der Länder näher bei der Insel gesegelt?« Während die Fragen aus seinem Mund kamen, bemühte sie sich mit aller Kraft, die Tränen zurückzuhalten. Sie zitterte.
Rasch zog er sie in seine Arme und strich ihr übers Haar. »Emily, Aria, jetzt ist alles gut. Wir sind zusammen, alles ist gut. Endlich, zum ersten Mal, ist wirklich alles gut.«
Heftig stieß sie ihn weg, und in ihren Augen loderte der Schmerz. »Es ist keineswegs alles gut, Ashe. Nichts ist gut.
Ungläubig öffnete er den Mund und schloss ihn sogleich wieder. »Sprich mit mir, Aria. Sag mir, was in deinem Herzen vorgeht.«
Aber Rhapsody konnte nicht sprechen. Sie blickte auf ihre Hände hinab und verschlang sie nervös ineinander, bis sie ganz weiß wurden. Ashe legte eine Hand darüber und die andere auf ihr Gesicht.
»Sag es mir, Aria, was immer es ist. Sag es mir.«
»Nun, zuerst einmal ist es so, dass ich all das schon morgen nicht mehr wissen werde, Ashe. Wenn die Sonne aufgeht, werde ich keine Ahnung haben, dass irgendetwas anders geworden ist. Ich werde mein Leben weiterleben in dem Glauben, dass du mich verlassen hast, dass ich dich vollkommen falsch eingeschätzt habe, dass du gestorben bist, als die Insel der Zerstörung anheim fiel, oder sogar noch vorher. Darüber denke ich jeden Tag nach, Ashe, selbst heute noch, jeden Tag. Ich zweifle an mir selbst, ich habe Angst, jemandem zu vertrauen. 0 ihr Götter, morgen wirst du mich verlassen, und ich werde nichts von all dem mehr wissen. Und ich werde glauben, dass sogar die Liebe, die ich hier mit dir gefunden habe bald einer anderen gehört. Vielleicht ist für dich alles gut aber für mich wird alles genauso schlecht sein wie vorher, genau genommen sogar noch schlechter.«
Sie überließ sich ihren Tränen. Ashe nahm sie wieder in die Arme und hielt sie fest. »Du hast Recht«, sagte er und küsste sie aufs Ohr. »Ich werde die Perle holen.«
Rhapsody setzte sich auf und entzog sich wieder seiner Umarmung. »Was? Warum?«
Ashe lächelte sie an und wischte mit den Knöcheln seiner Hand ihre Tränen fort. »Nichts, nichts auf der ganzen Welt ist es wert, dir auch nur eine Sekunde länger wehzutun. Du hast schon viel zu lange all dieses furchtbare Leid mit dir herumgeschleppt, Emily. Es ist viel wichtiger, dass das nun ein Ende hat, als dass sich irgendjemand seine egoistischen Wünsche erfüllt.« Er wollte aufstehen, aber sie hielt ihn zurück.
»Aber was wird dann mit Llauron geschehen?«
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch gleich. Für mich zählt, was mit dir geschieht.«
Jetzt waren Rhapsodys Augen trocken und besorgt. »Nun, ich weiß es aber, und ich glaube, du weißt es auch. Wenn ich für Llauron als Nachrichtenübermittlerin nutzlos geworden bin, weil ich die Wahrheit kenne, wenn ich mich weigere, einen Mann auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, weil ich weiß, dass er noch lebt, dann ist der ganze Plan dahin. Und es ist ohnehin zu spät, das Attentat noch zu verhindern, nicht wahr? Larks Plan steht fest; Llauron wird für nichts sterben, ohne die Chance auf Unsterblichkeit. Und das, weil ich zu selbstsüchtig bin, weil ich nicht darauf warten kann, eine bestimmte Information zu bekommen, obwohl ich über ein Jahrtausend auch ohne diese Information ausgekommen bin.« Sie seufzte tief.