»Es tut mir Leid, Sam«, sagte sie und gebrauchte endlich seinen Namen. »Du wolltest nicht glauben, dass ich egoistisch bin nun, jetzt hast du deinen Beweis. Mein Gejammer hätte dich beinahe dazu gebracht, deinen Vater sterben zu lassen.«
»Das ist wohl nicht ganz zutreffend.«
»0 doch, das ist überaus zutreffend.« Rhapsody wischte sich mit dem Saum ihres Kleides die letzten Tränen aus den Augen. »Aber wir haben das Ruder wenigstens rechtzeitig herumgerissen.«
Ashe sah sie scharf an. »Was sagst du da, Emily? Du möchtest die Erinnerung nicht behalten?«
Sie lächelte ihn an. »Bewahr du sie für mich auf, Sam. Ich kann noch eine Weile ohne sie leben.«
Er hielt sie eine Weile schweigend in den Armen. »Möchtest du es mir sagen?«
»Was?«
»Was mit dir geschah. Als ich nicht zurückkam.«
»Ich glaube, das möchtest du lieber nicht wissen, Sam.«
»Es ist deine Entscheidung, Emily. Ich möchte alles wissen, was ich verpasst habe, alles, was du mir erzählen magst, ohne dass es dir allzu wehtut.«
»Du möchtest unsere Vereinbarung also lockern? Die Vereinbarung, nicht über die Vergangenheit zu sprechen?«
»Ja«, antwortete er fest. »Bis jetzt haben wir geschwiegen, nicht nur, um uns den Schmerz zu ersparen, sondern auch um die Interessen unserer Familien und unserer Freunde zu schützen. Vergessen wir sie. Auf dieser, der nächsten, der letzten oder sonst einer Welt wird es für mich nie etwas Wichtigeres geben als dich. Nichts. Bitte, Emily, ich möchte wissen, was geschehen ist ... so viel du mir eben erzählen kannst. Damit wir vielleicht verstehen, warum es so gekommen ist und wie.«
Gedankenverloren studierte Rhapsody sein Gesicht. Kurz darauf sah er, wie ihre Augen dunkler wurden und sie offensichtlich eine Entscheidung traf. »Gut. Ich muss dir etwas erzählen, und du musst es hören. Vielleicht überlegst du dir dann manche Dinge noch einmal anders, von denen du dachtest, du hättest sie bereits entschieden.«
Er nahm ihr Gesicht in die Hände und musterte sie durchdringend. »Nichts, was du sagen könntest, wird mich dazu bringen, meine Meinung über dich zu ändern, Rhapsody«, erklärte er mit Nachdruck und versuchte, den Ton zu treffen, in dem sie als Benennerin die Wahrheit sprach. »Nichts.«
Sie durchschaute seinen Versuch und lächelte. »Warum hörst du nicht erst einmal zu und entscheidest dann, Sam?«
»Nichts«, wiederholte er beinahe trotzig.
Sanft schob sie seine Hände weg und stand auf, durchquerte den Raum und trat zu der Ecke neben dem Kamin. Dort nahm sie die Bilder von ihren Enkelkindern in die Hand, betrachtete sie und begann zu lächeln. »Erinnerst du dich an meinen Traum, der immer wieder kam? Der, von dem ich dir in jener Nacht berichtet habe?«
»Der, in dem die Sterne vom Himmel in deine Hände fielen?«
»Ja. Später dann, als ich an der Heiratslotterie teilgenommen habe, hat sich der Traum verändert, und die Sterne fielen durch meine Hände hindurch und ins Wasser des Bachs, der durch die Felder floss, die ich immer meine Flickendecke genannt habe. In der Nacht, als du nicht zurückkamst ... nun, sagen wir einfach, es war eine traurige Nacht, und als ich schlafen ging, hatte ich den Traum wieder, aber er war ganz anders. Ich träumte, dass ich ins Wasser schaute, und die Sterne waren in einem Kreis um einen langen dunklen Spalt herum vom Himmel gefallen und leuchteten mich an. Erst vor kurzem, als wir uns verliebt haben, ist mir klar geworden, was es war.«
»Und zwar ...«
»Es war dein Auge, Sam; dein Auge mit der Drachenpupille, so ganz anders als das, woran ich mich erinnere, und doch so ähnlich. Das muss meine Mutter gemeint haben in der Vision, als sie sagte, wenn ich meinen Leitstern fände, würde ich nie verloren sein. Sie meinte, er sei in dir dass du ein Stück meiner Seele in dir trügest, und um es zu aufzuspüren, müsse ich dich finden. Dass ich mit dir vollständig sein würde. Du bist nicht der Einzige, der ein Stück seiner Seele verloren hat; jetzt hat jeder für den anderen ein Stück in sich getragen. Nun verstehe ich endlich, warum ich hellsichtig bin, warum ich von der Zukunft träume. Es kommt daher, dass ich dir in jener Nacht in den Feldern einen Teil meiner Seele gegeben habe, und er ist mit dir zurückgekommen. In der Zukunft hat er gelebt, die ganze Zeit. Er hat Dinge gesehen, die für mich die Zukunft verkörperten, da ich vierzehnhundert Jahre in der Vergangenheit lebte. Er hat mich gerufen und versucht, uns wieder zu vereinigen.«
Ashe lächelte und blickte auf den Boden. »Danke Gott für diese Träume. Und wenn ich je die Fürstin von Rowan wieder treffe, muss ich ihr danken.«
Rhapsody stellte die Bilder an ihren Platz zurück und seufzte. »Unglücklicherweise habe ich damals nichts von all dem verstanden. Stattdessen senkte sich eine tiefe Verzweiflung auf mich herab, und ich ging durch die Tage wie durch einen Nebel. Meine Eltern waren sehr besorgt, genau wie dein Vater über dich. Ich hatte ihnen erzählt, du wärst ein Lirin, und mein Vater war überzeugt, dass du mich verzaubert hattest.
Er beschloss, dass ich etwas brauchte, um mein Herz zu kurieren, und glaubte, dass eine Ehe die Antwort wäre. Daher forcierte er die Antragsgespräche. Mich machte das nur noch verzweifelter und verängstigter, aber ich musste mich auf sein Urteil verlassen, weil ich jetzt an mir selbst zweifelte. Da fielen mir die Goldmünzen ein, die du mir geschenkt hattest, und ich kam zu dem Schluss, dass ich eigentlich meine Jungfräulichkeit für Geld verkauft hatte.«
Ashes Gesicht war schmerzverzerrt, aber Rhapsody schien es nicht zu bemerken. »Vermutlich wurden dadurch manche Dinge, die später geschahen, erst möglich. Eines Tages, etwa eine Woche, nachdem du gegangen warst, ritten ein paar Soldaten ins Dorf. Sie wussten nichts über dich im Besonderen, sie hielten einfach Ausschau nach auffälligen Subjekten, die zur gleichen Zeit aufgetaucht waren wie du. Die Leute, in deren Scheune du geschlafen hattest, zeigten ihnen die Gegenstände, die du liegen gelassen hattest, und dann ritten die Soldaten weg.
Ich hatte fürchterliche Angst, sie würden dich finden und dir etwas antun. Ich wollte alles versuchen, um dich zu warnen, deshalb packte ich ein, was ich tragen konnte, nahm eins der Pferde meines Vaters und lief davon, den Soldaten hinterher, nach Ostend. Ich war noch nie in einer Stadt gewesen, und sie erschien mir sehr groß und gefährlich; mein Pferd wurde mir fast sofort gestohlen. Ich fragte jeden, dem ich begegnete, nach dir, aber natürlich hatte dich keiner gesehen. Ich wagte mich sogar hinaus auf die Weiten Marschen, um die Führerin der Lirin zu sehen, die dort wohnte, aber sie kannte keinen der Namen, die du mir genannt hattest, außer MacQuieth, der ein sehr bekannter Krieger war und in den westlichen Ländern auf der anderen Seite des Großen Flusses wohnte. Inzwischen ist mir klar, dass außer ihm noch niemand von den anderen geboren war.
Jahre später traf ich MacQuieth, ganz zufällig. Und da er ein legendärer Held ist und aus deiner Familie stammt, werde ich dir die Einzelheiten dieser Begegnung ersparen. Ich möchte den Mythos nicht zerstören. Vermutlich liegen einige Dinge in der Familie.«
Ashe lachte. »Könnte es sein, dass eure Begegnung etwas gemeinsam hatte mit der Art, wie ich, ahm, wie ich Jo kennen lernte?«
Sie lächelte traurig. »Nun, in gewisser Weise schon«, gab sie zu, »aber du warst netter zu Jo als er zu mir. Ich fragte ihn nach dir, und er antwortete, er habe dich noch nie gesehen. In dem Augenblick gab ich auf; ich dachte, du wärest entweder tot oder ein Lügner, aber ganz gleich, was davon stimmte, würdest du ohnehin nicht zu mir zurückkommen, und ich würde dich nie wieder sehen.