Aber das war viele Jahre später, wie gesagt. Nach ein paar Tagen, als ich niemanden finden konnte, der dich auch nur gesehen hatte, beschloss ich, nach Hause zurückzukehren. Doch dann dämmerte mir, dass ich nicht einmal wusste, wo das war. Die Reise nach Ostend hatte mehrere Wochen gedauert, ich hatte damals keine Ahnung, wie man sich orientiert, und mein Pferd war auch verschwunden. Aber trotzdem habe ich immer daran geglaubt, dass ich eines Tages wieder heimfinden würde.
Ich brauchte Geld, deshalb verkaufte ich die Silberknöpfe, wie ich dir einen geschenkt hatte.«
Er zuckte zusammen, denn er erinnerte sich an die Aufregung und den Stolz in ihren Augen, als sie ihm in jener Nacht die Knöpfe gezeigt hatte. »Sie brachten einen anständigen Preis, und ich konnte eine Weile davon leben; mit dem Geld konnte ich mir eine Unterkunft leisten und Essen kaufen. Aber dann war das Geld alle, und ich musste mir eine andere Möglichkeit suchen, wie ich mich durchschlagen konnte.
Zuerst fand ich Arbeit als Putzfrau. Ich war ein Bauernmädchen, ich konnte gut putzen. Aber immer passierte irgendetwas. Früher oder später begannen sich der Herr und die Herrin des Hauses meinetwegen zu streiten, und manchmal wollte der Herr sogar ...« Sie wandte sich ab, verschränkte die Arme und starrte an die Wand. Der Feuerschein schimmerte auf ihrem Kleid und warf Schatten, die sich in den Falten des Seidenstoffs kräuselten, als wollte das Feuer sie trösten.
»Jedenfalls stand ich wieder auf der Straße. Und unglücklicherweise gibt es eine Menge Leute, die es darauf abgesehen haben, junge Mädchen auf der Straße auszubeuten. Dann wieder gibt es gelegentlich welche, die zwar von Mädchen wie mir profitieren, sie aber beschützen wollen und ich hatte das Glück, einer Frau dieser Sorte zu begegnen, kurz bevor sich eine der unappetitlicheren Gestalten an mich heranmachte. Alle nannten diese Frau Nana. Sie nahm mich bei sich auf, und von nun an stand ich unter ihrem Schutz. Ich musste nur ... nur ...« Ihre Stimme versagte. »Emily ...«
»Wahrscheinlich brauche ich es dir nicht näher zu erklären, Sam. Sie hat mich verkauft, und zwar häufig, wie ich leider zugeben muss. Dabei war ich gar nicht so leicht zu verkaufen; mein Körper verfügte nicht über die herkömmlichen weiblichen Reize, meine Brüste waren zu klein für diese Branche, und es half auch nicht, dass ich mich weigerte, verheiratete Männer zu bedienen. Das schränkte meinen Kundenkreis bedenklich ein. Doch trotz all dieser Hindernisse schaffte Nana es, Arbeit für mich zu finden.
Ich dachte, es würde mir nichts ausmachen; mir war ohnehin alles einerlei, ich schlug ja nur die Zeit tot. Aber ich erinnere mich noch an das erste Mal«, erzählte sie, und ihre Stimme wurde immer leiser und tonloser. »Ich war gerade fünfzehn. Es war lange her, dass ich mit dir zusammen gewesen war, und Nana konnte mich als unberührt verkaufen. Sie ging davon aus, dass ich noch einmal bluten würde, und sie hatte Recht. Vermutlich erzielte sie dafür einen besseren Preis. Wenn das später wieder passierte, bekam ich von ihr immer irgendeine Leckerei oder ein kleines Geschenk, aber dann hatte es immer etwas damit zu tun, dass die Männer gewalttätig waren, nicht unerfahren. Das erste Mal war es beides. Ich versuchte, tapfer zu sein, aber die Art von Mann, die bereit ist, für dieses besondere Privileg einen Sonderpreis zu bezahlen ...«
Sie hielt inne, als sie hinter sich ein lautes Schluchzen hörte. Erschrocken drehte sie sich um, raffte ihre Röcke, lief zu ihm und schlang die Arme um seinen Hals.
»Sam, es tut mir Leid. 0 ihr Götter, ich hätte es dir nicht erzählen sollen. Mir geht es gut, Sam, wirklich. Sam, bitte weine nicht. Es tut mir so Leid.«
Er zog sie auf seinen Schoß und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. Sie hielt ihn fest, bis das Weinen nachließ. In diesem Moment fasste sie den Beschluss, dass sie ihm nie wieder etwas über diese Zeit erzählen würde, und verschloss die Tür zu ihrer Erinnerung. Dabei war das noch gar nichts, dachte sie. Sich die wirklich schlimmen Sachen anzuhören würde er nicht aushalten.
»Aber es ist doch wirklich grotesk, dass du mich tröstest«, sagte er, als er wieder zu sprechen vermochte. »Du bist doch diejenige, die es erlebt hat meinetwegen!«
»Das ist Unsinn«, entgegnete sie und tupfte ihm behutsam mit ihrem Rock die Augen ab.
»Damit hattest du gar nichts zu tun. Ich bin diejenige, die weggelaufen ist. Und es war auch gut so wenn du nicht in meine Welt gekommen wärst und sei es auch nur für eine ganz kurze Zeit, dann wäre ich dir niemals gefolgt. Das ist die Wahrheit. Ich hätte mein Leben mit einem Bauern verbracht, den ich nicht geliebt hätte, ich hätte die Welt nie gesehen, von der du mir erzählt hast und die ich nun kennen gelernt habe. Ich wäre gestorben, lange bevor die Insel unterging, und wahrscheinlich wäre ich schon vor meinem Körper tot gewesen. Wenn du nicht gekommen wärst, wäre ich jetzt nicht hier. Du hast mein Leben gerettet, Sam, sieh es doch mal so. Ryle hira. Das Leben ist, wie es ist. Was immer wir erlitten haben, jetzt sind wir zusammen.«
Er wich ein Stück zurück und sah sie an, wie sie auf seinem Schoß saß und seine Hände hielt. Inzwischen gab sie kein so vollkommenes Bild mehr ab wie vorhin; ihr Kleid war zerknittert, ihre Haare lösten sich aus dem kunstvollen Knoten, aber im Feuerschein wirkte sie trotzdem so engelhaft schön, wie er sie noch selten gesehen hatte.
»Ich habe mich geirrt«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Was du mir erzählt hast, verändert doch mein Gefühl zu dir.« Rhapsody erbleichte. »Wenn es überhaupt möglich ist, liebe ich dich jetzt noch mehr.«
Erleichterung durchflutete sie. »Himmel, jag mir doch nicht so einen Schrecken ein«, schalt sie ihn und versetzte ihm einen Klaps auf den Arm. Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst.
»Aber es gibt mehr als nur einen Grund dafür, dass du es dir noch einmal anders überlegst.«
»Keinesfalls.«
»Sam ...«
»Nein, Rhapsody.«
»Ich weiß nicht, ob ich dir Kinder schenken kann«, platzte sie heraus, und ihr Gesicht wurde wieder bleich. »Ich glaube, ich bin unfruchtbar.«
Ashe streichelte sanft ihre Wange. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
Rhapsody starrte ins Feuer. »Nana hat uns immer ein Kraut namens Hurenfreund gegeben, einen Blattextrakt, der Schwangerschaften und Krankheiten verhindern sollte. Ich weiß nicht, ob das irgendetwas in mir verändert hat. In letzter Zeit habe ich keine derartigen Maßnahmen getroffen und bestimmt oft genug mit dir geschlafen, um ...«
767
Schnell zog er sie an sich. »Nein, Aria; entschuldige. Ich dachte, du wüsstest das. Ich bin ein Drache, einer der erstgeborenen Rassen. Um ein Kind zu zeugen, müsste ich von meiner Seite eine bewusste Entscheidung treffen, und da du mir nicht gesagt hast, dass du es dir von mir wünschst übrigens meiner Meinung nach eine kluge Entscheidung, habe ich nichts dergleichen unternommen.« Schmerzliche Erinnerungen flackerten in seinen Augen. »Genau genommen war ich, als ich dich in der alten Welt zurückgelassen hatte, vor allem auch deshalb so verzweifelt, weil ich nicht mit Sicherheit wusste, ob du nach unserer ersten gemeinsamen Nacht nicht schwanger geworden warst.
Damals hatte ich keine Kontrolle darüber. Meine Drachennatur kam ja erst viel später zum Vorschein, damals, als der Sternsplitter in meine Brust gesteckt wurde. Auch für mich war es mit dir das erste Mal schon damals war ich dir restlos verfallen. Deshalb hättest du, so weit ich es beurteilen konnte, durchaus schwanger sein können, als ich dich verließ. Die Vorstellung brachte mich fast um du allein und verletzlich, wahrscheinlich entehrt, voller Schmerz und Angst, mit meiner Tochter oder meinem Sohn, die ich nie kennen würde. Es war, als hätte ich nicht nur die Liebe meines Lebens, meine Seelenpartnerin verloren, sondern auch noch dieses Kind.« Die Hand, die ihre Wange liebkoste, zitterte. Rhapsody nahm sie und küsste sie. »Aber es gab kein Kind. Bei allen Göttern, Sam, ich habe mir lange gewünscht, es wäre so gewesen.«