Ashe nickte. Falls er sich ärgerte, verbarg der Umhang jedes Anzeichen davon.
»Selbstverständlich«, antwortete er nur und verlagerte sein Gewicht. »Ich warte.«
Noch einmal berührte Rhapsody seinen Arm, dann rannte sie zu dem Felsvorsprung auf halbem Weg zum Gipfel. Unterwegs sah sie schon, wie sich die Soldaten, mit dem Rücken an die Felswand gepresst, verstohlen in den Barackengang zurückzogen, sobald sie Grunthor in sicherer Entfernung wussten.
»Bei allen Göttern, was ist denn los? Du siehst ja furchtbar aus.« Der Sergeant wirkte zerzaust, und seine Augen funkelten. »Wir müssen da runter, Gräfin. Sie braucht uns.« »Die Großmutter? Oder das Kind? Woher weißt du es?« Der FirbolgRiese beugte sich keuchend vor und legte die Hände auf die Knie. »Das Erdenkind. Ich weiß nich genau, woher ich das weiß, aber ich weiß es. Und so, wie’s ihr geht, kann ich es mehr als gut verstehn. Du musst noch mal für sie singen, Hoheit. Sie hat schrecklich Angst.«
»In Ordnung, Grunthor«, erwiderte Rhapsody beschwichtigend. »Ich komme mit dir. Ich muss mich nur zuerst noch von Ashe verabschieden, er verlässt uns nämlich.«
Grunthor betrachtete sie durchdringend. »Endgültig?«
»Ja.«
Der forschende Blick wurde weicher und voller Mitgefühl. »Alles in Ordnung, Gräfin?«
Rhapsody lächelte. Sie dachte daran, wie er diesen Ausdruck zum ersten Mal gebraucht hatte, das erste von vielen, vielen Malen. Es war im Tunnel an der Wurzel gewesen, als er sich vergewissert hatte, dass sie nicht in die endlose Finsternis gestürzt war. Jedes Mal hatte sie seine Frage, ob alles in Ordnung sei, bejaht, obwohl es nur teilweise stimmte ganz gleich, ob sie wieder in Sicherheit war oder nicht, es würde nie wieder ›alles in Ordnung‹ sein. Eine traurige Ironie des Schicksals, dass sie es ausgerechnet jetzt wieder hörte.
»Es wird schon wieder«, antwortete sie schlicht. »Weck Achmed und hol meine Rüstung. Ich treffe dich dann draußen auf der Heide.«
Grunthor nickte, klopfte ihr auf die Schulter und machte sich auf den Rückweg zum Kessel. Rhapsody blickte ihm nach und kehrte dann zu Ashe zurück.
Er stand noch da, wo sie ihn verlassen hatte, auf seinen Wanderstock gelehnt.
»Alles in Ordnung?«, fragte auch er.
Rhapsody legte die Hand über die Augen und blickte in die Dunkelheit seiner Kapuze empor. Der Anblick schnitt ihr ins Herz, aber sie schluckte den Schmerz hinunter und hoffte, dass er, wenn sie ihn das nächste Mal sah wahrscheinlich im Großen Gerichtshof, bei seiner Krönung endlich in der Lage sein würde, mit unverhülltem Gesicht, der Sonne zugewandt und vor den Augen aller Menschen furchtlos dahinzuschreiten.
»Mein jüngstes Enkelkind braucht meine Hilfe«, erklärte sie. »Ich werde mich um sie kümmern, sobald sich unsere Wege am Fuß des Vorgebirges trennen. Komm, lass uns aufbrechen.«
55
Achmed war fest davon ausgegangen, dass Rhapsody sich nicht rechtzeitig von Ashe losreißen würde, und hatte sich deshalb Zeit gelassen, auf die Heide zu kommen. Als er jedoch die letzte Anhöhe überquert hatte, fand er dort zwei Gestalten vor, eine riesig, die andere klein und zierlich, die beide schon auf ihn warteten. Achmed fluchte. In ihrer Unberechenbarkeit war Rhapsody schon fast wieder berechenbar.
»Dann ist er also weg?«, wollte er wissen, während er Grunthor den morgendlichen Bericht der Nachtpatrouille in die Hand drückte. Rhapsody nickte nur. »Gut.«
Grunthor warf ihm einen bösen Blick zu und legte die Hand auf Rhapsodys Schulter. »Wann kommt er denn zurück, Schätzchen?«
»Gar nicht«, antwortete sie kurz. »Vielleicht sehe ich ihn bei der königlichen Hochzeit in Bethania wieder, aber vermutlich wird das dann das letzte Mal sein. Er ist unterwegs, sein Schicksal zu erfüllen.« Sie blickte zurück in die Sonne, die jetzt über den Gipfel des Griwen stieg. »Lasst uns aufbrechen, damit wir auch das unsere in Angriff nehmen können.«
Der Tunnel des Loritoriums hallte unter ihren Schritten und der Erinnerung an ihre eigenen Stimmen.
Ist sie immer noch da, Herr?
Verdammt, Jo, ich binde dich gleich an einen Stalagmiten, da kannst du warten, bis wir zurückkommen.
Ich möchte mit euch kommen. Bitte.
Achmed schloss die Augen, der Kopf war ihm schwer vom Gewicht der Erinnerungen. Die Fackel in Grunthors Hand flackerte unruhig, eine blasse Kerze im Vergleich zu der lodernden Flamme, die beim ersten Mal ihren Weg zu der versteckten Zauberkammer beleuchtet hatte. Achmed fragte sich, ob die schwache Flamme ein Zeichen dafür war, dass sich das konzentrierte Wissen in der abgestandenen Luft verflüchtigte, während der Wind aus der Welt oben durch die uralten Gänge blies. Vielleicht aber war es auch eher ein Zeichen dafür, dass das Feuer in Rhapsodys Seele ein wenig schwächer brannte. Sie sagte nichts, sondern folgte ihnen schweigend in den Bauch des Berges, das Gesicht verhärmt und gespenstisch weiß im blassen Fackellicht. Den ganzen Weg durch den Tunnel zum Loritorium sagte sie kein Wort, ganz anders als auf ihren gemeinsamen Reisen über Land oder entlang der Wurzel, wo sie und Grunthor sich die Zeit mit Liedern oder gepfiffenen Melodien vertrieben hatten. Die Stille war geradezu ohrenbetäubend. Nachdem sie etwa tausend Schritte zurückgelegt hatten, hörte Achmed ein langsames, stockendes Einatmen und wusste plötzlich, dass auch Rhapsody Stimmen im hallenden Tunnel hörte.
Wollt Ihr mir sagen, dass der Herrscher von Roland eine Zivilistin ohne den Schutz der bewaffneten wöchentlichen Karawane nach Ylorc geschickt hat?
Die Zeiten sind gefährlich, nicht nur in Ylorc, sondern überall.
Ich erfülle nur den Auftrag meines Gebieters, Herrin.
Prudence, Ihr müsst heute Nacht hier bleiben. Bitte. Ich fürchte um Eure Sicherheit, wenn Ihr jetzt geht.
Nein. Es tut mir Leid, aber ich muss umgehend nach Bethania zurück.
Gespenster, dachte Achmed. Überall Gespenster.
Schließlich wurde der Tunnel breiter und bildete den Eingang zur Marmorstadt. Die Flamme aus dem Feuerbrunnen brannte stetig und warf lange Schatten in das leere Loritorium.
»Hier scheint alles in Ordnung zu sein«, meinte Achmed, während er den Feuerbrunnen untersuchte. »Ich spüre keine ungewöhnlichen Schwingungen.«
So verließen sie das Loritorium und wanderten den Gang hinunter zur Kammer des Schlafenden Kindes.
Wie immer stand die Großmutter im Eingang.
»Ihr seid gekommen«, stellte sie fest, und all ihre Stimmen zitterten. »Es geht ihr schlechter.«
Aus der Kammer drang ein Stöhnen. Sie eilten durch die riesige Tür aus Russbeschmiertem Eisen in die Kammer hinein.
Auf dem Katafalk wälzte sich das Erdenkind und murmelte frenetisch vor sich hin. Rhapsody lief zu ihr, flüsterte tröstende Worte, versuchte das Mädchen zu beruhigen, aber es reagierte nicht.
Auf einmal packte Achmed Rhapsody so heftig am Arm, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte. Als sie aufblickte, bedeutete er ihr, Grunthor anzusehen. Der Riese stand neben dem Katafalk, und im schwachen Licht war seine dunkle Haut aschfahl geworden. Auf seinem breiten Gesicht standen Schweißperlen.
»Da kommt etwas«, flüsterte er. »Etwas ...« Die Worte blieben ihm im Halse stecken, und er schnappte hörbar nach Luft.
»Grunthor?«
Der Riese zitterte und griff nach seinen Waffen.
»Die Erde«, flüsterte die Großmutter. »Die Erde schreit. Grüner Tod. Schmutziger Tod.«
Wie als Spiegelbild des Firbolg-Riesen begann der Boden um sie herum zu beben. Felsbrocken und Granit brachen von Wänden und Decke, Staub rieselte herab und färbte die Luft schwarz.
»Was ist das? Ein Erdbeben?«, rief Rhapsody Grunthor zu. Mit grimmigem Gesicht senkte der Sergeant Schwert und Spieß. Er hatte kaum Zeit, den Kopf zu schütteln. Um sie herum war leises Knallen und Knacken zu hören, wie von nassem Holz im Feuer, und plötzlich wuchsen aus dem Boden, aus der Decke und aus den Wänden tausende winziger Wurzeln; schwarz und dornig lugten sie aus der Erde wie neue Frühlingsschösslinge. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie zur Größe von Dolchen herangewachsen, die drohend in die Luft schlugen. Inzwischen hatte Achmed die Höhle durchquert und war kaum eine Armlänge von Rhapsody entfernt. Sie unterdrückte einen Entsetzensschrei als die Wurzeln zu zischen begannen, und hielt die Hände schützend über den Kopf des Schlafenden Kindes.