Und dann wurden die Flammen plötzlich schwach und verloschen; mit sich nahmen sie auch die letzten Reste von Luft aus der Höhle. Eine hohle Stille donnerte durch das Lorito rium und verklang schließlich zu einem gespenstischen Zischen. Rhapsody fiel auf die Knie und rang in dem leblosen Rauch nach Atem.
Wer heilt, wird auch töten.
Auf einmal überwältigte sie die volle Bedeutung dessen, was sie der Großmutter angetan hatte; sie fing an zu würgen und übergab sich.
Grunthor und Achmed hielten sich die Augen zu, legten die Arme schützend über den Kopf und stellten sich vor das Schlafende Kind, als der Rückschlag der Flammen den Tunnel entlang und an ihrem Bunker vorbeirollte. Selbst durch die Felswand hindurch spürten sie die sengende Hitze, und ihre Kleider wurden warm. Ihre Blicke trafen sich. Achmed lächelte ein wenig, als er in Grunthors Augen das Glimmen der Angst erkannte.
»Sie wird es überstehen.«
Grunthor nickte. Sie warteten, bis der Lärm nachließ, und lauschten.
»Noch ein bisschen«, meinte Achmed. »Gleich wird sie kommen.«
»Was macht dich da so sicher?«, wollte Grunthor wissen.
Achmed lehnte sich zurück an die Felswand. »Ich habe ihr ein paar von ihren Tricks abgeschaut. Glaub daran, dass das eintritt, was du dir wünschst, vertraue darauf, dass es so kommen wird, und irgendwie, wie durch ein Wunder, passiert es wenigstens bei ihr. Es hat funktioniert, als ich sie ins Leben zurückgesungen habe. Es wird auch jetzt klappen.«
Unsicher nickte Grunthor und wandte sich dem Erdenkind zu. Im Dunkeln lag das Mädchen in seinen Armen; zum ersten Mal seit langem schlief sie ganz ruhig und so tief, dass er kaum erkennen konnte, ob sie überhaupt noch atmete. Schweigend und fasziniert sah er den sanften Bewegungen zu, mit denen sich ihre Brust hob und senkte.
Einen flüchtigen Augenblick lang hatten sie sich einen Körper geteilt, das Erdenkind und er. Bei dieser Begegnung hatte er viele Geheimnisse der Erde erfahren, obgleich er keines davon hätte in Worte fassen können. Es war fast etwas Heiliges an dem Gefühl, das pochende Herz der Welt in sich gespürt zu haben, ein unübertreffliches Schwingen, das er jetzt, wo es nicht mehr da war, heftig vermisste.
Er starrte ins Gesicht des Erdenkindes, grob und ungeschlacht wie sein eigenes und dennoch seltsam glatt und schön, sichtbar für ihn auch ohne Licht. Er wusste, dass stumme Tränen in schlammigen Bächlein über ihre blanken Wangen rannen, wusste, dass sie um die Großmutter trauerte und hinter ihren Augen eine stille Totenwache abhielt. Jetzt verstand er, was die dhrakische Matriarchin gemeint hatte, als sie sagte, sie kenne das Herz des Kindes. Vielleicht würde er es jetzt ebenfalls kennen.
Erst als Achmed unruhig wurde und sich enger an die Wand ihres Bunkers lehnte, dämmerte ihm, wie lange Rhapsody inzwischen schon weg war. Der König legte das Ohr an die Wand, dann trat er kopfschüttelnd wieder zurück.
»Hörst du irgendwas?«, erkundigte sich Grunthor hoffnungsvoll. Aber Achmed schüttelte nur abermals den Kopf.
»Kannst du sie durch die Erde fühlen?«
Grunthor überlegte einen Moment. »Nein. Alles ist durcheinander, wie unter Schock. Ich kann nichts erkennen.«
Zittrig stand Achmed auf. »Vielleicht kann ich ihren Herzschlag aus dem gleichen Grund nicht spüren.« Grunthors Augen waren plötzlich voller Besorgnis. »Wir geben ihr noch einen Moment, und wenn sie dann nicht auftaucht, gehen wir sie suchen«, setzte Achmed hinzu, lehnte sich an die Felswand und lauschte erneut, ob er von der anderen Seite etwas hören konnte. Nichts.
»Rhapsody!«, rief er, aber der Klang seiner Stimme kam zu ihm zurück, um einen Augenblick später von ihrem Erdbunker verschlungen zu werden. Er wandte sich an Grunthor, und seine dunklen Augen blitzten.
»Mach wieder auf«, befahl er schroff und deutete auf die Felswand. Behutsam bettete Grunthor das Erdenkind auf einen Arm und fasste mit der freien Hand in die Felswand hinein. Vor ihm brach ein großes Stück weg. Wie als Antwort hörte er Rhapsodys Stimme, die von der anderen Seite der Steinwand nach ihnen rief.
»Grunthor! Achmed! Alles in Ordnung mit euch da drinnen?«
Der Bolg-Riese griff noch tiefer in den Felsen und riss ihn von der Öffnung weg. Als er auf die andere Seite trat, erhellte ein müdes Lächeln sein Gesicht.
»Aber, aber, Hoheit, du hast dir ganz schön Zeit gelassen, stimmt’s? Wir ham uns Sorgen gemacht, und zwar nich zu knapp.«
Rhapsody erwiderte sein Lächeln und bot Achmed ihre Hand an, um ihn aus dem Bunker zu ziehen. »Du hast gut reden«, meinte sie zu Grunthor. »Eine halbe Ewigkeit dachte ich, du wärst noch in der Kolonie, begraben unter einem Schuttberg.« Ihr Lächeln verblasste, als sie sah, dass er das Schlafende Kind trug. »Ich muss gestehen, als ich sah, wie sie umherging, dachte ich, jetzt wäre alles vorbei. Wie hast du das angestellt? Bist du mit ihr verschmolzen, wie du es auch bei den Felsen machst?«
»Jawohl. Was glaubst du denn, was sie ist, wenn nich aus Stein?«, antwortete Grunthor schlicht. »Ich hab mir gedacht, dass ich sie kaum wohlbehalten aus dem ganzen Schutthaufen rausschleppen kann. Da war es so am einfachsten.«
Mit einer Handbewegung zum Eingang der Kolonie meinte Achmed: »Lasst uns jetzt gehen.«
In dem riesigen Tunnel herrschte Totenstille, abgesehen von einem gelegentlichen leisen Knallen oder Zischen von der Asche, welche die Wände und den Boden bedeckte. Um sie herum und über ihnen, wo die Ranke gewaltsam in die Höhle eingedrungen war, waren nur mehr verbrannte Wurzelstücke und die verschlungenen Überreste der Gänge zu erkennen, die sie in die Erde gegraben hatten.
Achmed beugte sich über die Trümmer des Bogens über dem Katafalk des Schlafenden Kindes und ließ seine empfindsamen Finger über die vertrauten Buchstaben gleiten, die dort eingemeißelt gewesen waren. Einst hatten sie eine Welt, die sie nie zu Gesicht bekommen würde, davor gewarnt, das hier ruhende Kind zu wecken. Nun lagen sie auf dem Boden verstreut, zerbrochen zu sinnlosem Kauderwelsch.
Rhapsody legte ihm die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung?«
Achmed nickte abwesend. Irgendwo hier musste die Asche der Großmutter sein, für immer vermischt mit den Überresten der Dämonenranke, unzertrennlich wie das ineinander verflochtene Schicksal von Dhrakiern und F’dor. Es machte ihn traurig, wenn er daran dachte, dass das Ende der Zeit sie so vorfinden würde. Schließlich stand er auf, klopfte sich den Schmutz von den Händen und starrte in den gewundenen Tunnel hinauf, aus dem die Ranke gekommen war.
»Der Gang reicht bis ins Haus der Erinnerungen, mindestens sechshundert Meilen von hier«, meinte er, während er mit zusammengekniffenen Augen in die Finsternis spähte. »Das ist nicht gut. Die F’dor haben einen Zugang in den Berg, das macht uns verletzlich.«
»Aber nicht lange«, entgegnete Grunthor fröhlich. Er zog das Schlafende Kind enger an seine Brust, schloss die Augen und fühlte, wie nah das Lebensblut der Erde seinem Herzen war. Dann streckte er die Hand aus und legte sie an die Wand.
Rhapsody und Achmed sprangen zurück, als der Tunnel anschwoll und in sich zusammenstürzte, sodass sich der Spalt füllte, den die Ranke in die Erde gerissen hatte. Die Erde verlagerte ihre Masse und schloss den Zugang, durch den der F’dor in den Berg gedrungen war.
Rhapsody blickte nach oben. Trotz der mächtigen Verschiebungen war ihnen außer ein wenig Staub nichts auf den Kopf gefallen. Wieder sah sie Grunthor an. Er wirkte fast durchsichtig, und es ging das gleiche Strahlen von ihm aus, das die Erde erfüllt hatte, als sie an der Axis Mundi entlanggekrochen waren. Das Kind der Erde, dachte sie voller Zuneigung. Als das Strahlen nachließ, zog Grunthor die Hand zurück, wandte sich zu seinen Freunden um und lächelte.