»Ich ertrage das nicht mehr, ich komme noch um vor Langeweile. Gute Nacht.« Jo stand auf und ließ den Dolch in die Scheide an ihrem Handgelenk Zurückgleiten.
»Weiter«, sagte Achmed mit einem Blick auf die Liste. »Es sind nur noch ein paar.« Er hatte siebenundzwanzig Repräsentanten von verschiedenen Staats und Kirchenoberhäuptern empfangen, von denen er nur zwei wirklich hatte sehen wollen; auch er war müde.
»Lass bloß die Finger von den Geschenken«, warnte Grunthor Jo mit einem Funkeln in seinen Bernsteinaugen. »Als Erster darf Seine Majestät sie sich ansehen.«
Jo verzog das Gesicht. »Weißt du, ich mochte dich viel lieber, bevor du König warst, Achmed.« Damit marschierte sie aus der Großen Halle und zurück in ihre Gemächer. Achmed seufzte. »Ich auch.«
3
Am Morgen nach ihrem Streit war der Umgang zwischen den Reisegefährten leichter und entspannter als seit Wochen. Rhapsody konnte sich erst nicht recht erklären, warum es so war, kam aber dann zu dem Schluss, dass all das Misstrauen zwischen ihnen, das bis zum gestrigen Abend unausgesprochen geblieben war, sich im Lauf der Reise immer mehr angestaut, nun endlich ein Ventil gefunden und sich entladen hatte.
Es war seltsam; er hatte sie mit seiner Waffe bedroht, sie hatte ihn beleidigt, und nun fühlten sie sich viel wohler miteinander, als sie sich seit ihrem Aufbruch von Ylorc jemals gefühlt hatten, gerade so, als hätte plötzlich ein Fieber nachgelassen. Der ständige Kontakt mit den Bolg macht mich allmählich sonderbar, dachte Rhapsody mit einem amüsierten Seufzer. Das abstoßende Verhalten der Männer in ihrer Bekanntschaft, das ihre Brüder veranlasst hätte, ihre Ehre zu verteidigen, gehörte inzwischen zu ihrem Alltag. All ihre männlichen Freunde behandelten sie grob.
Vielleicht war es das, was ihr an Ashe gefiel. Anders als die anderen Menschenmänner, die sie kannte, behandelte er sie wie eine Freundin oder sogar eine höflich distanzierte Bekannte. Er wies nicht ständig Anzeichen von Erregung auf; von Nana, der Besitzerin des Bordells, in dem sie in Serendair gelebt hatte, hatte sie gelernt, amouröse Absichten früh zu erkennen, und diese Fähigkeit leistete ihr gute Dienste. Ihr war klar geworden, dass Männer mit wenigen Ausnahmen zu denen Ashe gehörte in einem Zustand ständiger Erregung lebten. Ashe behandelte sie freundlich und ein wenig spöttisch, ganz ähnlich wie ihre Brüder es getan hatten, schäkerte zwar gelegentlich mit ihr, bedrängte sie aber nie. Ob seine platonische Haltung ihr gegenüber ein Zeichen von Gleichgültigkeit oder ein körperliches Problem war, spielte dabei keine Rolle. Auf alle Fälle entstand so eine angenehm kameradschaftliche Stimmung, die sie sehr schätzte. Ashe wusste, dass sie in diesem Irrglauben lebte, und das erleichterte ihm das Atmen. Nichts jedoch hätte von der Wahrheit weiter entfernt sein können. Sein Nebelmantel, seine verhasste Verkleidung vor den Augen der Welt, war hier ein Segen, denn er verbarg seine Sehnsucht nach ihr ebenso wie seine ganz und gar nicht noblen Wünsche. Rhapsodys seltsames Talent zur Selbsttäuschung trug das seine zu dieser Situation bei. So setzten sie ihre Reise fort er gab ihr keinen Grund, seine Absichten in Zweifel zu ziehen, und sie ignorierte jedes Anzeichen dafür, dass sie überhaupt existierten.
Als der Regen sie einholte, wurde das Wandern zur Strapaze. Je weiter sie nach Westen gelangten, desto dichter war der Wald, wodurch sie noch langsamer vorwärtskamen. Der Schnee zu Füßen der Bäume war geschmolzen und hatte Ringe braunen Grases zurückgelassen, Vorboten des wärmeren, wenn auch vielleicht nicht unbedingt besseren Wetters.
Nachdem sie sich stundenlang durch verwachsenes Dickicht und Dornenbüsche geschleppt hatten, machten sie eines Spätnachmittags am Rand eines Sumpfs Halt. Rhapsody entdeckte einen einigermaßen gemütlich aussehenden Blätterhaufen unter einer Ulme und ließ sich erschöpft darauf sinken. Ashe wich zurück, als sie mit lautem Kreischen wieder aufsprang, sich den Allerwertesten rieb und in der Firbolg-Sprache hässliche Flüche ausstieß. Als sie die Fassung wiedergewonnen hatte, kniete sie sich unter den Baum, fegte die Blätter beiseite und legte einen großen viereckigen Stein mit eingemeißelten Runen frei. Die Worte waren vom Schmutz verkrustet. Vorsichtig kratzte sie die harte Erde weg und atmete tief aus, als sie die Inschrift entzifferte.
Cyme we inne frið,
fram the grip of deaþ to lif
inne ðis smylte land
Diese Inschrift hatte Llauron ihr vor langer, langer Zeit gezeigt; Gwylliam hatte Merithyn, dem Entdecker, aufgetragen, mit diesen Worten alle Wesen zu begrüßen, denen er auf seinen Reisen begegnete, mit den Worten, die er auf Elynsynos’ Grab eingemeißelt hatte. Kommen wir in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben. »Das ist ein cymrisches Zeichen«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als laut. Auch Ashe bückte sich, um den Stein näher in Augenschein zu nehmen. »Tatsächlich«, meinte er freundlich. »Erkennst du ihn wieder?«
Verwundert blickte Rhapsody ihn an. »Was meinst du? Wenn ich gewusst hätte, dass der Stein hier ist, glaubst du, ich hätte mir daran wehgetan?«
Ashe richtete sich wieder auf. »Nein«, antwortete er. »Ich habe mich nur gefragt, ob du ihn vielleicht schon einmal gesehen hast.«
»Wann sollte das gewesen sein? Wenn ich schon einmal hier gewesen wäre, würde ich dich kaum als Führer brauchen.« Damit nahm sie ihren Umhang ab und legte ihn auf den Boden. Ashe entledigte sich seines Tornisters. »Ich dachte, du hast den Stein vielleicht gesehen, als er aufgerichtet wurde.«
Rhapsody stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. Ständig ließ Ashe irgendwelche Andeutungen dieser Art fallen oder machte versteckte Anspielungen auf die Cymrer der Ersten Generation. Schon lange war sie zu dem Schluss gekommen, dass er versuchte, ihr eine Falle zu stellen, sie als eine von ihnen zu entlarven. Allerdings war dies sein bisher deutlichster Versuch.
»Ich habe wirklich genug von diesem Spielchen«, sagte sie. »Wenn du wissen möchtest, ob ich mit der Ersten Flotte gesegelt bin, warum fragst du mich nicht einfach?«
Offensichtlich überrascht, richtete Ashe sich noch gerader auf. »Bist du mit ihr gesegelt?«
»Nein.«
»Oh.« Anscheinend erstaunte ihn ihre Antwort. »Mit der Zweiten? Oder der Dritten vielleicht?«
»Nein. Ich war überhaupt noch nie auf einem Schiff, abgesehen von Ruderbooten und Fähren.«
»Dann bist du nie auf See von einem Land zum anderen gereist? Du bist überall hin gewandert?«
Unwillkürlich musste Rhapsody an ihren Marsch denken, an der Wurzel entlang, mitten durch die Erde. Sie schauderte. »Zu Fuß oder auf dem Pferderücken. Würdest du jetzt bitte das Thema wechseln?«
Ashe ließ seinen Tornister zu Boden fallen. »Das Thema wechseln?«
»Seit wir aufgebrochen sind, hast du mich mit verstohlenen Fragen über die Cymrer gequält. Das gefällt mir nicht.«
»Aber weißt du denn, wer sie waren?«
»Ja«, räumte sie ein, »aber was ich über sie weiß, habe ich aus historischen Schriften erfahren und von denen, die sie studierten. Wenn du also so freundlich wärst, könnten wir dieses Katz-und-Maus-Spiel beenden.«