»Das ist eine sehr lirinsche Einstellung.«
»Tja, falls dir das bisher entgangen ist ich bin eine Lirin.«
Ashe gab einen theatralischen Seufzer von sich. »Vermutlich bedeutet das, dass man sich nicht bei dir einschmeicheln kann, indem man dir Komplimente für dein Aussehen macht.«
Gedankenverloren strich sie sich durchs Haar. »Nein, eigentlich nicht. Es ist mir unangenehm, vor allem, wenn du es gar nicht so meinst.«
»Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich es nicht so meine?«
»Hierzulande scheint es eine ganze Menge Leute zu geben, die finden, ich sehe ungewöhnlich aus, sonderbar; aber meistens macht mir das nichts aus.«
»Was? Das ist doch lächerlich.« Ashe stellte seinen leeren Becher ab.
»Nein, das ist nicht lächerlich. Ich werde öfter angestarrt, als du vielleicht denkst. Wenn du mich die Straße hinuntergehen sähest, könntest du verstehen, was ich meine.«
Ashe wusste nicht, ob er sich über ihre Begriffsstutzigkeit amüsieren oder ärgern sollte.
»Rhapsody, ist dir schon mal aufgefallen, dass die Männer dir folgen, wenn du die Straße hinuntergehst?«
»Ja, aber das kommt daher, dass ich eine Frau bin.«
»Allerdings.«
»Eben, und das machen Männer nun mal sie folgen einer Frau, meine ich. Das ist ihre Natur. Sie sind darauf aus, sich zu paaren, und fast immer, nun ja, fast immer dazu bereit. Dafür können sie nichts. Aber es muss ziemlich anstrengend sein, so zu leben.«
Ashe ließ es sich lieber nicht anmerken, dass er sich amüsierte. »Du glaubst also, dass jede Frau diese Wirkung auf jeden Mann ausübt?«
Wieder blinzelte Rhapsody. »Hm, ja. Es ist Teil der Natur, der Fortpflanzungszyklus, Anziehung und Paarung.«
Nun konnte Ashe sein Lachen nicht mehr zurückhalten. »Da bist du aber leider auf dem Holzweg.«
»Das glaube ich nicht.«
»Aber ich. Du irrst dich gewaltig, wenn du denkst, dass alle Frauen die gleiche Wirkung auf die Männer haben wie du. Du beurteilst es aus deiner eigenen Erfahrung, und die ist ganz anders als die der meisten Leute.«
Allmählich wurde das Gespräch ihr unbehaglich; Ashe merkte es daran, dass sie nach ihrem Tornister griff und darin kramte, bis sie ihre Lerchenflöte fand. Gelegentlich spielte sie das winzige Instrument im Wald; sein Klang verschmolz mit der Waldluft und dem Vogelgesang. Doch nur bei Tag, denn jetzt waren die Vögel still, und die einzige Musik in dieser Stunde stammte vom Wind. Rhapsody lehnte sich an einen Baum und betrachtete Ashe voller Sarkasmus.
»Und du glaubst, dass du Männer und Frauen besser beurteilen kannst?«
Wieder lachte Ashe. »Nun, nicht besser als die meisten, aber besser als du.«
Unvermittelt begann Rhapsody zu spielen, eine Melodie, bei der sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Dann nahm sie die Flöte von den Lippen und lächelte.
»Ich finde, du bist genauso wenig geeignet, ein Urteil zu fällen, wie ich.«
Neugierig richtete Ashe sich auf. »Ach ja? Warum?«
»Weil du ein Wanderer bist.«
»Und was hat das damit zu tun?«
»Meiner Erfahrung nach sind Waldläufer und Wanderer ganz anders als die Mehrzahl der Männer«, behauptete sie leichthin. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen; ihre Augen suchten den Himmel ab, fanden aber nicht, was sie suchte.
»Wie das?«
»Zum einen suchen sie bei Frauen etwas anderes. Das heißt, von den Frauen, mit denen sie zeitlich begrenzt zu tun haben.«
Sie konnte nicht sehen, ob Ashe wirklich lächelte oder ob sie sich nur einbildete, in seiner Stimme ein Lächeln zu vernehmen. »Und was mag das sein?«
Gedankenverloren nahm Rhapsody ihr Flötenspiel wieder auf. Nun war die Melodie luftig, aber melancholisch, und Ashe stellte sich vor, er könnte die Farben und das Gewebe sehen, das sie mit ihren Tönen erschuf, Muster tiefer, weicher Wirbel in Blau und Purpurschattierungen, wie Meereswogen vor einem sich verdunkelnden Sturmhimmel. Dann jedoch wurde das Lied fröhlicher, die Farben hellten sich auf und breiteten sich aus, bis sie wie Wolken auf einem warmen Wind bei Sonnenuntergang dahinschwebten. Fasziniert lauschte Ashe, bis Rhapsody geendet hatte, hielt den Gedanken, den sie nicht beantwortet hatte, jedoch die ganze Zeit über fest.
»Nun?«
Sie zuckte zusammen. Offensichtlich war sie in Gedanken weit weg. »Ja?«
»Entschuldige. Was suchen die meisten Männer in einer zeitlich begrenzten Beziehung zu einer Frau?«
Rhapsody lächelte. »Vergnügen und Ablenkung.«
Ashe nickte. »Und was suchen Wanderer?«
Einen Augenblick dachte sie nach. »Kontakt.«
»Kontakt?«
»Ja. Menschen, die ihr Leben lang allein durch die Welt gehen, verlieren manchmal ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, sie wissen nicht mehr, was wirklich ist und was nur in ihrer Erinnerung lebt. Männer, die den größten Teil ihres Lebens auf Wanderschaft sind, wünschen sich von den Frauen, mit denen sie für eine kurze Zeit zusammen sind, in erster Linie Kontakt die Bestätigung, dass sie wirklich existieren. Zumindest ist das nach meiner Erfahrung so.«
Eine Weile schwieg Ashe. Als er wieder sprach, war seine Stimme sanft. »Erkennen sie denn manchmal auch, dass sie nicht existieren?«
»Das kann ich nicht wissen. Ich bin kein Wanderer, zumindest nicht freiwillig. Ich hoffe, es nur für eine kurze Zeit sein zu müssen. Mir sagt dieses Leben nicht zu, ich habe längst genug davon.«
Schweigend saßen sie da, bis Rhapsodys Wache begann, dann stand Ashe langsam auf, bereitete seine Sachen für die Nacht vor und verschwand auf der anderen Seite des Feuers im Schatten. Rhapsody sah zu, wie er sich hinlegte, und glaubte einen tiefen Seufzer zu hören. Vielleicht las sie auch ihre eigenen Gefühle in diesem Laut, aber sie hörte eine tiefe Einsamkeit, ihrer eigenen nicht unähnlich. Schon mehrmals hatte sie sich in seinen Gefühlen geirrt und war betroffen gewesen, wenn sie versucht hatte, ihn zu trösten oder zu beruhigen, nur um zu erkennen, dass er kein Bedürfnis danach verspürte und sich über ihre Bemühungen ärgerte. Einen Augenblick lang überlegte sie, welche Möglichkeiten sie hatte, dann beschloss sie, sich lieber dahingehend zu irren, dass sie zu nett war.
»Ashe?«
»Hmmm?«
»Du existierst, selbst wenn du manchmal schwer zu sehen bist.«
Die Stimme aus dem Schatten klang unverbindlich. »Danke vielmals, dass du mir das sagst.«
Rhapsody duckte sich. Wieder einmal hatte sie die falsche Entscheidung getroffen. So hielt sie Wache, suchte den Horizont nach Lebenszeichen ab, entdeckte aber keine. Abgesehen vom Knistern der Flammen und dem gelegentlichen Flüstern des Windes war die Nacht still. In der Stille hörte sie Ashe leise, wie zu sich selbst, sprechen.
»Ich freue mich, dass du das denkst.«
Um Mitternacht weckte sie ihn zu seiner Wache, kroch dankbar in ihre Bettrolle und war schon eingeschlafen, bevor sie sich richtig ausgestreckt hatte. Etwa eine Stunde später kamen die Albträume und überfielen sie so heftig, dass Ashe seinen Entschluss, sich herauszuhalten, in den Wind schlug und Rhapsody vorsichtig wachrüttelte. Tränenüberströmt fuhr sie hoch, und es dauerte über eine Stunde, ehe sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Es war ein alter Traum, ein Traum, der sie zum ersten Mal heimgesucht hatte, als sie erfahren hatte, dass Serendair nicht mehr existierte, dass es vor vierzehnhundert Jahren zerstört worden war, als sie und die beiden Bolg durch den Bauch der Erde gekrochen waren. In ihrem Traum stand Rhapsody in einem Dorf, das von einem schwarzen Feuer verzehrt wurde; Soldaten ritten durch die Straßen und erschlugen alles, was sie sahen. In der Ferne sah sie Augen am Horizont, rote Augen, die sie auslachten. Und dann, als ein blutüberströmter Krieger auf einem schwarzen Schlachtross mit feurigem Blick wie ein Besessener auf sie zu galoppierte, wurde sie von den Klauen eines riesigen kupferroten Drachens gepackt und in. die Lüfte emporgetragen.