Sollte der F’dor also über sie kommen und sich an ihre Seele binden, so wäre das leicht zu erkennen. Wenn sie von einem dämonischen Geist, der zur Lüge geboren war, besessen wäre, würde sie nicht mehr als Benennerin wirken können und ihre Wahrheitsmacht verlieren. Ein kleiner Trost angesichts all der Gefahren, die irgendwo außerhalb seines Landes und seines Schutzes auf sie lauerten.
Achmed schauderte und blickte zur Feuerstelle. Die letzten Kohlen waren heruntergebrannt, in einem dünnen Rauchfaden verschwunden.
Mitten in den Baracken der firbolgschen Bergwache träumte auch Grunthor was äußerst selten vorkam. Anders als der Firbolg-König war er ein schlichter Mann mit einer schlichten Gesinnung. Demzufolge hatte er auch schlichte Albträume.
Doch unter seinen Träumen hatten oft zahlreiche Leute zu leiden. Wie Achmed war auch Grunthor halb bolgischer Abstammung, aber seine andere Hälfte war bengardisch, eine Rasse riesenhafter Wüstenbewohner mit grusligen Gesichtszügen und öliger, ledriger Haut, die sie vor den Auswirkungen der Sonneneinstrahlung schützte. Die Bolg-Bengard-Kombination war für das Auge so abstoßend, wie Rhapsodys Menschen-Lirin-Mischung anziehend wirkte, selbst für die Empfindung der Bolg, deren Wertschätzung für Grunthor höchstens von ihrer Furcht vor ihm in den Schatten gestellt wurde eine Einstellung, die Grunthor durchaus behagte.
Während er nun im Schlaf brummte und durch die sorgfältig polierten Hauer wisperte, die aus seinem vorspringenden Kinn ragten, verhielten sich die Hauptmänner und Leutnants der Bergwache ganz still, denn sie hatten Angst, die leiseste Bewegung könnte ihren Sergeanten stören oder gar wecken, was ungefähr das Letzte war, was sie sich wünschten. Allem Anschein nach würden weder Grunthor noch einer der Bolg, die den Schlafgang mit ihm teilten, in dieser Nacht Ruhe finden.
Grunthor träumte von einem Drachen. Abgesehen von einer eher fragwürdigen Statue in einem cymrischen Museum hatte er noch nie einen gesehen, und so waren seine Visionen auf den begrenzten Horizont seiner Phantasie beschränkt. Was er über Drachen wusste, hatte er von Rhapsody erfahren, die ihm auf der unendlichen Reise an der Wurzel entlang von Drachen erzählt hatte: Geschichten von der Körperkraft der gigantischen Bestie, von seiner Macht über die Elemente und ebenso von seiner durchdringenden Klugheit und seinem Drang, Schätze zu horten.
Diese letzte Eigenschaft war es, die ihm Albträume bereitete. Er fürchtete, dass der Drache, wenn Rhapsody sich erst einmal in seiner Höhle befände, alles daransetzen würde, sie in Besitz zu nehmen und sie nie mehr in den Berg zurückkehren zu lassen. Einen solchen Verlust konnte er sich nicht wirklich vorstellen, denn ihm war noch nie etwas so wichtig gewesen, dass er es hätte vermissen können.
Im Schlaf legte er die Hand auf die Wand neben sich und flüsterte dazu auf Bolgisch die Trostworte, die er Achmed hatte angedeihen lassen, um seinem langjährigen Freund und Anführer über den Verlust seiner Blutgabe hinwegzuhelfen, kurz nachdem sie von der Wurzel emporgestiegen waren. Grunthor hatte ihn gekannt in der Zeit, als er noch der Bruder gewesen war, der erfahrenste Meuchelmörder, den die Welt jemals gesehen hatte, so genannt, weil er der Erste seiner Rasse war, der auf der Insel geboren war, von der sie stammten. Serendair war ein einmaliges Land gewesen, einer der Orte, von denen man gemeinhin sagte, die Zeit selbst habe hier ihren Anfang genommen. Als Erstgeborener seiner Rasse in diesem einmaligen Land hatte der Bruder eine Bindung zu allem besessen, was dort lebte. Mit dem Spürsinn eines Jagdhundes hatte er den Herzschlag jedes Einzelnen aufzufinden, seinen eigenen daran anzupassen und ihm mit tödlicher Genauigkeit zu folgen vermocht, erbarmungslos in seiner Suche, bis er sein Opfer aufgespürt hatte. Ihm dabei zuzuschauen, wenn er seine Beute gesucht und dann gejagt hatte, war einem Wunder gleich gekommen. Doch all das hatte sich geändert, als sie von der Wurzel an die Oberfläche gekommen waren und dieses neue Land auf der anderen Seite der Welt betreten hatten. Achmeds Gabe war seitdem verschwunden; nun konnte er nur mehr die Herzen hören, die aus der alten Welt, aus Serendair, stammten. Zwar hatte Achmed damals nichts gesagt, aber Grunthor hatte seine Verzweiflung gespürt, und ihm war damals klar geworden, dass es Dinge gab, die Kummer verursachten, weil sie eben nicht mehr da waren.
Und nun erlebte er das Gefühl am eigenen Leibe. Rhapsody war eine Lirin, Angehörige einer zierlichen, zerbrechlichen Rasse, die von den Firbolg im alten Land sehr erfolgreich gejagt worden war, obwohl die Lirin das, was ihnen an Kraft mangelte, im Allgemeinen durch ihre Schläue und Flinkheit wettmachten. Einige Angehörige dieser Rasse hatte Grunthor selbst schon verspeist, wenn auch nicht so viele, wie er den anderen im Spaß gern weismachte. In vielerlei Hinsicht waren die Lirin und die Firbolg so gegensätzlich wie er selbst und Rhapsody. Die Lirin waren spitz und kantig, wo die Bolg sehnig und muskulös waren. Die Lirin lebten im Freien, auf den Feldern und in den Wäldern unter den Sternen, während die Bolg in Höhlen und Bergen geboren wurden, Kinder der Dunkelheit. Nach Grunthors Ansicht besaß Rhapsody einige Vorteile dadurch, dass sie von einem Menschen gezeugt worden war; zwar wirkte sie immer noch zierlich, aber nicht zerbrechlich, und statt der scharfen Kanten hatte sie sanfte Rundungen, hohe Wangenknochen und ganz sicher weichere Gesichtszüge als ihre Mutter. Rhapsody war schön. Ganz ohne Zweifel würde der Drache das auch finden. Bei diesem Gedanken brüllte Grunthor im Schlaf auf, und vor Schreck drückten sich seine Leutnants an die roh behauenen Wände des Schlafsaals oder rannten gleich ganz aus dem Raum. Das Holz seines massiven Betts knarzte, während er um sich schlug, bis er sich endlich auf die Seite wälzte und allmählich wieder beruhigte. Ein Weilchen war das einzige Geräusch im Raum der beschleunigte Atem seiner unglücklichen Schlafgenossen, deren Augen vor Angst glänzten und hektisch blinzelten.
Ohne aufzuwachen, zog Grunthor die raue Wolldecke über die Schultern und seufzte, als die Wärme seinen Nacken erreichte, ein ähnliches Gefühl, wie es sich einstellte, wenn er sich in Rhapsodys Nähe aufhielt. Nachdem sie die Wurzel einmal erreicht hatten, hatte er zunächst gar nicht wieder weg gewollt. Durch das Namenslied, das Rhapsody für ihn gesungen hatte, um ihn durch das große Feuer zu führen, war er mit der Erde verbunden. Grunthor, stark und verlässlich wie die Erde selbst, so hatte sie ihn in dem Lied genannt. Von dem Augenblick an, als sie aus dem Feuer getreten waren, hatte er das pochende Herz der Erde in seinem Blut gespürt, ein Band zu Granit und Basalt und allem, was darüber wuchs. Die Erde war wie die Geliebte, die er nie gehabt hatte, warm und tröstlich in der Dunkelheit; nie zuvor hatte er sich so angenommen gefühlt, und dieses Gefühl war unentwirrbar mit Rhapsody verbunden. Weil Rhapsody da war, vermisste er die Zeit im Innern der Erde im Grunde nicht, und er vermisste auch das Erdlied nicht, denn er hatte es nach wie vor in den Ohren, wenn um ihn herum Stille herrschte. Er sah immer noch Rhapsodys Lächeln in der Dunkelheit, ihr schmutziges Gesicht, das im Schein der Axis Mundi schimmerte, der gigantischen Wurzel, welche die Welt in der Mitte teilte und die sie von Serendair bis hierher an diesen neuen Ort geführt hatte.
Von Anfang an war Grunthor Rhapsodys Beschützer gewesen; er hatte sie getröstet, wenn sie nachts wieder einmal unter ihren Ängsten gelitten hatte, er hatte sie in der feuchten Kälte ihrer Reise an der Wurzel an seiner Brust schlafen lassen und sie bei ihrer mühsamen Kletterpartie vor dem Absturz ins Nichts bewahrt. Diese Rolle war so anders als alles, was er kannte, und er hätte es selbst nicht für möglich gehalten, dass er fähig war, so zu handeln und zu empfinden. Jetzt kostete es ihn seine ganze Selbstbeherrschung, sie nicht in ihrer Kammer einzusperren und ihren Reisegenossen aus dem Berg zu jagen. Wie er den doppelten Verlust verkraften sollte den Verlust von Rhapsody selbst und mit diesem auch den Verlust der Erinnerung an den Schoß der Erde, die sie in ihm wach hielt, das konnte er sich nicht vorstellen. Grunthor war nicht sicher, ob er imstande wäre weiterzuleben, falls sie sterben oder einfach nicht zurückkehren sollte.