Doch dann klärten sich seine Gedanken plötzlich, wie immer, wenn sie zu verworren wurden, und seine praktische Nüchternheit kehrte zurück. Grunthor war ein Mann militärischer Lösungen, und so wog er unbewusst ab, wie wahrscheinlich es war, dass Rhapsody überlebte. Sie trug eine ernst zu nehmende Waffe die Tagessternfanfare, ein Schwert aus der alten Welt, das sie hier, auf der anderen Seite der Welt, aus unerfindlichen Gründen in der Erde gefunden hatten. Genau wie sie selbst hatte auch das Schwert eine grundlegende Veränderung durchgemacht; hier brannte seine Klinge mit einem eigenen Feuer, während sie in Serendair nur das Licht der Sterne zurückgeworfen hatte. Grunthor hatte Rhapsody damit zu kämpfen gelehrt, und sie hatte ihm alle Ehre gemacht, als sie auf ihrem Feldzug zur Unterwerfung der Bolg eine bewundernswerte Leistung im Schwertkampf gezeigt hatte. Sie konnte auf sich selbst aufpassen. Sie würde zurechtkommen.
Grunthor begann zu schnarchen, Musik in den Ohren seiner Schlafgenossen. Leise machten sie es sich wieder auf ihren Lagern bequem, sorgsam darauf bedacht, den tiefen Schlaf, in den der Sergeant soeben gesunken war, keinesfalls zu stören.
Gegenüber von Rhapsodys Gemächern träumte Jo die typischen Träume einer verliebten Sechzehnjährigen, voller hormonell bedingter Erregung und grässlich verzerrter Bilder. In ihrem unsagbar unordentlichen Zimmer lag sie schlafend auf dem Rücken, der Lieblingsposition von Straßenkindern, wenn sie in einer Stadtgegend, in die sie eigentlich nicht gehören, ein gemütliches Plätzchen gefunden haben. Hin und wieder tupfte sie sich unwillkürlich die Schweißperlen von der Brust oder zog die Beine enger zusammen, wenn ihr Schoß vor Erregung zu brennen anfing.
Das sich von einem Moment auf den nächsten verändernde Traumbild war Ashe, was in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass sie ihn nie wirklich gesehen hatte obgleich sie näher daran gewesen war als die meisten anderen. Von der Stunde an, als sie sich auf dem Marktplatz von Bethe Corbair kennen gelernt hatten, verzehrte sie sich vor Sehnsucht nach ihm, ohne selbst recht zu wissen, warum.
Ursprünglich war er in ihren Augen lediglich ein gutes Ziel für ihre Fingerfertigkeit als Taschendiebin gewesen ein Mann, der fast unsichtbar an der Straße gestanden und sich den Aufruhr angeschaut hatte, den Rhapsody ohne dass es im Geringsten ihre Absicht gewesen wäre hervorgerufen hatte. Doch als Jo behutsam die Hand in seine Hosentasche gesteckt hatte, hatte sie eine Aufwallung von Macht gespürt, die sie völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Der Nebel, der ihr Handgelenk umwallt hatte, hatte sie so durcheinander gebracht, dass sie anstelle seiner Geldbörse plötzlich seine Hoden zwischen den Fingern gespürt hatte. Das darauf folgende Handgemenge hatte sich als unangenehme, aber recht eindrückliche Art des Kennenlernens erwiesen, nicht nur für Ashe und Jo, sondern auch für Ashe und Rhapsody. Das Missverständnis war so problemlos aus der Welt geschafft worden, wie derlei Dinge sich in Rhapsodys Gegenwart meistens auflösten.
Jetzt träumte Jo von seinen Augen, ein durchdringendes, klares Blau im Dunkel seiner Kapuze, das unter dichtem kupferrotem Haar hervorblitzte; mehr war von seinem Gesicht aus ihrem Blickwinkel nicht zu sehen gewesen. Seit Ashe Monate später zu Besuch nach Ylorc gekommen war, hatte sie sorgfältig aufgepasst, ob sie nicht einen Blick auf weitere Einzelheiten erhaschen könnte, aber es war ihr nie gelungen. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt etwas gesehen hatte, ob die Erinnerung an seine Augen und Haare vielleicht nur ihrer Phantasie entsprungen war, in dem verzweifelten Wunsch, die Leere zu füllen. Manchmal träumte Jo von seinem Gesicht, aber es war meist eine unangenehme Erfahrung. Ganz gleich, wie schön der Traum begann, entwickelte er sich meist zu etwas Schrecklichem. In wachen Momenten war Jo klar, dass Menschen, die ihr Gesicht verbargen, oft einen guten Grund dafür hatten und dass es im Allgemeinen deshalb geschah, weil sie ein abstoßendes Äußeres hatten. Achmed beispielsweise, der sein Gesicht ebenfalls verhüllte, war hässlich wie der Tod noch hässlicher, wenn das möglich war.
Das erste Mal, als sie Achmed ohne die Stoffschleier gesehen hatte, die für gewöhnlich den unteren Teil seines Gesichts verhüllten, war ihr buchstäblich die Luft weggeblieben. Seine Haut war pockennarbig und fleckig, mit hervortretenden Adern und von einer ungesunden Blässe. Und dann waren da natürlich noch seine Augen, eng beieinander stehend und irgendwie ungleich, wodurch sie seltsam starr wirkten.
Jo hatte Rhapsody zur Seite gezogen.
Wie erträgst du es nur, ihn anzuschauen?
Wen?
Achmed natürlich.
Warum?
Ihre adoptierte große Schwester war keine große Hilfe, wenn es darum ging, Klarheit in die Verwirrung zu bringen, die Jo hier im Firbolg-Berg verspürte, denn Rhapsody schien sich zwischen den Hässlichen und den Ungeheuern geradezu wohl zu fühlen. Jedes Mal, wenn Jo darauf anspielte, dass Achmed wahrlich kein angenehmer Anblick sei, starrte Rhapsody sie nur verständnislos an.
Gleichzeitig schien sie keinerlei Grund dafür zu sehen, dass jemand sich zu Ashe hingezogen fühlte. Insgeheim war Jo froh darüber, denn sie selbst konnte ihr verstohlenes Verlangen, das Tag um Tag in ihr wuchs, nicht leugnen. Mit Erleichterung hatte sie zur Kenntnis genommen, dass Rhapsody anscheinend auch nicht bemerkte, wie sehr Ashe sich zu ihr hingezogen fühlte. Das Leben auf der Straße hatte Jo zu einer scharfen Beobachterin gemacht, und obwohl Ashe seine Gefühle für Rhapsody kaum einmal offen zeigte, hatte sie diese trotzdem wahrgenommen. Auch Achmed und Grunthor hatten etwas gemerkt, da war sie sicher. Aber Grunthor war die meiste Zeit über bei seinen Manövern, und Achmed hatte andere Gründe dafür gefunden, Ashe nicht zu mögen; deshalb war es schwer für Jo, ihre Vermutung bestätigt zu sehen, ohne die beiden direkt zu fragen. Und sie wäre lieber gestorben, als dergleichen zu tun.
Jo wälzte sich auf den Bauch, winkelte ein Knie an und barg ihren Kopf in den Armen, in dem Versuch, sich vor den Pfeilen der Eifersucht zu schützen, die jetzt im Dämmerlicht ihres Schlafzimmers auf sie einprasselten. So sehr sie sich die Aufmerksamkeit des verhüllten Fremdlings wünschte, so erschrak sie doch vor den brutalen Gedanken, die sie hinsichtlich Rhapsodys hegte dem einzigen Menschen, der sie je geliebt hatte und der ihr jetzt, wenn auch ohne es zu wollen, im Wege stand.
Rhapsody und die beiden Bolg hatten Jo aus dem Haus der Erinnerungen befreit und vor dem Blutopfer gerettet, dem die anderen Kinder dort anheim gefallen waren und dessen Zeugin sie geworden war. Achmed und Grunthor hätten sie Herzog Stephen übergeben, aber Rhapsody hatte sie adoptiert, hatte sie mitgenommen, sie beschützt, ihr die Gelegenheit gegeben, sich zugehörig zu fühlen, sie geliebt. Gerade als Jo allmählich gelernt hatte, diese Liebe zu erwidern, war Ashe aufgetaucht und hatte alles schwierig gemacht. Davor war es für Jo schlicht ums Überleben gegangen, um tägliche Reibereien mit dem Gesetz und mit anderen unappetitlichen Zeitgenossen, um die schlichte Herausforderung, sich Essen und einen Unterschlupf für die Nacht zu beschaffen. Jetzt aber war alles viel zu kompliziert geworden. Die letzte Kerze in Jos Kammer flackerte und erstarb, nur der glühende Docht und der beißende Geruch des flüssigen Wachses blieben in der Dunkelheit zurück. Jo rümpfte die Nase und zog sich die Decke über den Kopf. Der Morgen konnte nicht früh genug kommen. Ashe träumte nicht von einem Wesen dieser Welt und auch nicht von einem aus dieser Zeit. In seinem Zustand, weder richtig tot noch richtig lebendig, fand er allein in den Erinnerungen an die Vergangenheit Erlösung von der Qual, die er jeden wachen Augenblick mit sich herumschleppte.