Elizabeth Haydon
Tochter der Sonne
Für Rhiannon und Brayden
in Liebe
Karten: Erhard Ringer
Ode
Das Gedicht der Sieben
Gesang des himmlischen Webstuhls
Klagelied des Webers
I
Ein böser Wind
1
An einem Morgen von unübertrefflicher Schönheit stieg die Sonne über dem strahlenden Meer auf, dessen Kräuselungen so grell leuchteten, dass es schon beinahe schmerzhaft war. Der Winterwind tanzte über den glitzernden Wogen und brachte aus den südlichen Landen den frischen, süßen Duft des fernen Frühlings mit – und damit auch den Geruch von Blut.
Rath fluchte, senkte den Kopf auf die Brust und zog die braune Kapuze noch weiter über die stechenden Augen. Er wartete darauf, dass das Wasser unter seinen durchscheinenden Lidern klar wurde, blinzelte dann einige Male und sah wieder hoch zur Küstenlinie. Die See war so still, dass das Ufer in der Ferne kaum schwankte. Rath packte das Ruder mit seinen sehnigen Fingern, streckte den Rücken und ruderte auf den Strand zu.
Mit jedem Ruderschlag, mit jedem Knarren des Holzes in der Riemendolle seines kleinen Bootes sang er sich die Liste seiner Ziele vor, deren Namen unauslöschlich in sein Gehirn eingebrannt waren. Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken, flüsterte er in der seltsamen, sirrenden Sprache seiner alten Rasse, der einzigen Art von Rede, die für den Wind unhörbar war. Rath achtete immer darauf, keine Nachrichten in den Wind zu sprechen, besonders nicht in den Meereswind, der sie rastlos über die ganze Welt verteilte, sodass jeder sie hören konnte, der auf die rechte Weise zu lauschen wusste. Rath war sich der losen Zunge des Windes wohl bewusst; er war aus diesem vergänglichen Element geboren.
Während er ruderte, biss er die Zähne zusammen und verfluchte schweigend die Wellen, über die er glitt. Das Wasser hatte für lange Zeit seine Schwingungen unterbrochen und ihn von seiner Beute fern gehalten. Jeder Ruderschlag brachte ihn der Befreiung näher, doch das besänftigte seinen wachsenden Zorn keineswegs. Solange er nicht fern des Meeres und der Kakophonie aus dichten Schwingungen war, die es hervorbrachte, war er unfähig zur Jagd. Also richtete er seine ganze Aufmerksamkeit wie immer auf die Namen.
Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.
Als er seine zukünftigen Opfer aufgezählt hatte, die schon auf seiner Liste standen, solange er sich erinnern konnte, stimmte er stumm einen letzten Namen an, den er erst vor kurzem hinzugefügt hatte.
Ysk.
Das war kein Name in seiner eigenen Sprache, sondern einer, der seinem Träger von einer dummen, halbmenschlichen Rasse verliehen worden war, die nur selten Worte gebrauchte. Ysk war das Firbolg-Wort für Spucke und für das Austreten von etwas Faulem. Dass diese Ungeheuer jemandem einen solchen Namen gegeben hatten, sprach von tiefstem Abscheu und einer Verachtung, die keine Grenzen kannte.
Es war möglicherweise der schlimmste Name, den Rath je gehört hatte.
Auch war es ein toter Name, ein Name, dessen Macht vor mehr als einem Jahrtausend gebrochen worden war und dessen Geschichte tief im Meeresgrund auf der anderen Seite der Welt ruhte. Ein vollkommen vergessener Name, vollständig ausgelöscht von Wind und Erinnerung, gegenwärtig nur noch für Rath und seinesgleichen.
Es war der letzte Name auf seiner Liste, aber der erste, nach dessen Träger er suchen würde, sobald er an Land ging.
Als der Strand schließlich so nahe gekommen war, dass die Anstrengung des Ruderns in keinem Verhältnis mehr zum Fortkommen stand, kletterte Rath aus dem Boot und ließ es in der Tide treibend zurück. Er hatte die Stelle seines Landgangs sorgfältig ausgewählt und gelangte daher unbemerkt in einer kleinen, felsigen Bucht zwischen zwei Fischerdörfern ans Ufer. Sein Glück hielt an, weit und breit war niemand auf dem Strand zu sehen.
Mit einem letzten Blick über die Schulter wandte er sich vom Seewind ab. Das kleine Boot trieb in einem wenig anmutigen Tanz allmählich ins offene Meer zurück und drehte sich ziellos in der Strömung hin und her. Rath watete an Land und beachtete dabei weder das Seegras noch die Kiesel, die den Grund unter seinen Füßen bedeckten. Seine Sohlen hatten keine Nervenstränge; die Schwielen von jahrtausendelangem Wandern durch Feuer waren fast so dick wie eine Bootswand.
Als er am Strand angekommen war, eilte er weiter, bis ihn der bebende Schaum der Wellen nicht mehr erreichen konnte. Dann blieb er in dem kalten, trockenen Sand stehen, zog seine Kapuze zurück, hielt den Kopf in Richtung Südwesten geneigt und lauschte dem Wind.
Er wartete hundert Herzschläge lang, hörte aber keine Stimmen von der Art seiner eigenen. Keiner seiner Jagdgefährten hatte etwas zu berichten, so wie es die meiste Zeit hindurch üblich war.
So wie es schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden war.