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Der Mond schimmerte silbern auf den offenen Feldern und erhellte den Pfad.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Owen?«, rief Ashe dem alten Kammerherrn zu, als sie die Pferde am Weg zurückgelassen hatten und sich einen Weg durch das Gras am Rande des Tals bahnten.
»Ja, Herr«, antwortete Gerald Owen schnaubend. »Ich meine nur, dass dieses Flittchen sich vermutlich in der Festung versteckt hat und jetzt für die Soldaten die Beine breit …«
»Hör auf damit.« Der cymrische Herrscher blieb gerade lange genug stehen, um eine Buche zu untersuchen, an der ein Zweig abgebrochen war; der Saft rann noch aus der frischen Bruchstelle. »Sie hat nichts getan, Owen; sie hat mich nur an Dinge erinnert, die über meinen Verstand gehen. Es war falsch, sie in einem solchen Zustand fortzuschicken. Bald wird noch genug Blut an meinen Händen kleben. Ich will diesen Krieg nicht mit dem Tod einer unschuldigen Dienerin beginnen.«
»Ihr Blut klebt … an Tristan Stewards … Händen«, erwiderte Owen, der sich keuchend bemühte, zu Ashe aufzuschließen. »Er hätte sie … mitnehmen sollen, als wir zur … Hohen Warte gegangen sind. Sie wurde nicht mehr … gebraucht.«
»Mit etwas Glück wird ihr Blut in den Adern bleiben, wenn wir sie schnell genug finden«, sagte Ashe. »Beeil dich, Owen. Ich muss bald zurückkehren.«
»Ich weiß, Herr, ich weiß.« Owen verdoppelte seine Geschwindigkeit und ließ den cymrischen Herrscher nicht aus den Augen, während dieser durch das Tal schritt. Sein Haar glänzte silbrig-rot und metallisch im Licht des blutigen Mondes.
Ashe blieb unvermittelt stehen; der Drache in seinem Blut war entflammt.
In nicht allzu weiter Ferne hörten sie Kampfeslärm. Ein zischendes Jammern kratzte und schlug wie Nägel über das Trommelfell. Die beiden Männer fassten sich mit der Hand an die Stirn, als der Druck im Kopf stieg und zu einem plötzlichen, scharfen Schmerz wurde. Ein Wirbelsturm aus alter und tödlicher Macht sog alle Energie aus der Luft in ihrer Nähe.
Der Herr der Cymrer zog sein Schwert und rannte durch das Tal. Der Wald erstrahlte in pulsierendem, blauem Licht.
Rath bemerkte den hinter ihm aufragenden Schatten erst, als dieser das Mondlicht verdunkelte, das eben noch seine Strahlen vor ihm auf den Boden des Tals geworfen hatte. Er war sich des Gesangs kaum mehr bewusst. Aus allen Enden der Erde wisperten die Stimmen der Wächter in uralten Melodien. Es war das raue Brummen des gemeinsamen Geistes, der seine Macht dem alten Ritual hinzufügte. Einen Augenblick lang schien sich die Welt nicht mehr zu drehen. So war es immer, wenn einer der Bewohner der Tiefen Kammer kurz vor seiner Auslöschung stand und nichts mehr hinterließ, was die Welt beflecken konnte.
Die Bestie vor ihm befand sich in ihrem Todeskampf. Er sah, wie die verzehrende Dunkelheit ihres Geistes vergeblich darum kämpfte, den Körper der Frau zu verlassen, den sie seit vielen Jahren bewohnt hatte. Obwohl sie nichts mehr gegen ihren drohenden Untergang tun konnte, war ihr Hass immer noch so brennend wie Säure, und sie zischte und gurgelte vor Wut, während sie sich am Boden wand und ihr das Blut aus den Augen floss, die sie mit boshaften Blick auf ihn gerichtet hatte.
Beißender Rauch, der den Gestank der Tiefen Kammer verströmte, drang aus der Brust des Dämons. Die Augen der Frau quollen hervor, als sich das Blut in ihrem Hirn sammelte, und ihr Rücken krümmte sich, als die Adern platzten.
Plötzlich wurde die Luft so trocken, dass sie beinahe knisterte, und die Hitze des bösartigen Wesens durchfuhr sie., als dieses von seinen irdischen Banden gelöst wurde. Der Rauch, der aus Portias zerrissener Brust aufgestiegen war, wirbelte nun wütend umher und zersetzte sich, als die Bestie zu ihrer verwundbaren, nicht-körperlichen Gestalt zurückkehrte und im Griff des dhrakischen Windnetzes keuchte und bebte.
Der Körper sank schlaff und leblos zu Boden.
Rath spürte, wie die Frau fiel; er spürte das Zerren und Zucken in seiner Hand und seinem Herzen, als die unsichtbaren Fäden, die ihr Herz mit dem seinen verbanden, mit jedem Atemzug schwächer wurden; es war, als wehre sich ein Fisch gegen eine Angelleine. Er wusste, dass die Bestie noch einige Augenblicke weiterkämpfen würde. Da Hrarfa aus dem Älteren Pantheon stammte, war sie viel stärker als die Dämonen, die er in letzter Zeit vernichtet hatte.
Unter jeder Zuckung und jedem Versuch, dem Tod zu entkommen, krampfte sich Raths Herz zusammen. Die unzerbrechlichen Bande des Windes, die sie beide vereinten, verliefen durch seine Adern, und jedes Zerren an ihnen war wie ein Messerstich in seine Brust. Doch Rath hatte schon Schlimmeres durchgemacht, und seltsamerweise stimmte der Schmerz ihn froh und tat seinem Herzen gut. Jedes neue Zusammenziehen war schwächer als das vorangegangene; das war ein sicheres Zeichen dafür, dass der Geist bald dem Körper in den Tod und die Auslöschung folgen würde.
Er war so versunken in den Bann des Augenblicks, in die Wichtigkeit dieses Ereignisses und die Freude über das Ende einer jahrtausendelangen Suche, dass er den Fremden im Tal nicht bemerkte.
Bis ihn der Schlag im Rücken mit der Wucht einer Lanze im vollen Flug traf und ihm die Hälfte seiner Rippen brach. Er wurde durch das Tal geschleudert und schlug mit dem Kopf gegen eine Buche.
Der Schock bewirkte, dass er bei Bewusstsein blieb – zumindest vorerst.
Faron stand einen Moment lang still da und beobachtete, wie der Mann in der Robe, den er soeben fortgestoßen hatte, gleich einem Kleiderhaufen zu Boden fiel.
Es war der Geruch, der ihn an diesen Ort geführt hatte – ein trockenes Brennen in der Luft, das ihn an seinen Vater erinnert hatte, der im Meer ertrunken war. Er war dem Geruch in dieses Tal gefolgt und hatte hier etwas gesehen, das er nicht verstand. Er hatte lediglich gespürt, dass ihn das, was hier vor sich ging, an den Verlust seines Vaters erinnerte.
Einen Verlust, den er noch immer nicht begreifen und auf keinen Fall akzeptieren konnte.
Der Mann war sehr schmächtig gewesen, und Faron hatte ihn mit kaum mehr als einer beiläufigen Bewegung fortgeschleudert. Nun sah er sich in dem Tal um, erkannte aber nichts.
Hilf mir! Bitte.
Die Stimmte kratzte in seinen Ohren. Der Steintitan bewegte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen und erkannte den Klang wieder. Es war dasselbe verzweifelte Schmeicheln, das er manchmal in der Nähe des Barons von Argaut spüren, aber nicht hören konnte – jenes Mannes, den die Welt einst als Michael, den Wind des Todes, gekannt hatte.
Doch diese Stimme hier war eindeutig weiblich.
Farons Verstand war zu primitiv, zu sehr in Mitleidenschaft gezogen durch Geburt, Wiedergeburt und die gegenwärtigen Umstände, um begreifen zu können, was hier geschah. Etwas tief in seinem Innern riet ihm wegzulaufen; es war ein fast verschütteter Sinn für Selbstschutz, den ihm seine schon lange tote Mutter vererbt hatte, doch zugleich war an der Stimme etwas Vertrautes, etwas Verzauberndes, das bis in sein Innerstes drang.
Bitte … gewähre mir Unterschlupf. Ich sterbe.
Faron drehte sich um und wollte das Tal verlassen.
Bitte. Die Stimme verblasste, und ihr Tonfall wurde noch verzweifelter. Du und ich, wir sind miteinander verwandt. In dir ist dunkles Feuer. Wir sind verwandt. Ich werde dich nähren und dich lehren. Bitte lass mich nicht sterben. Gib mir Schutz, nimm mich auf.
Faron blieb stehen. Die Worte waren zwar die einer rasend Verzweifelten, aber es lag eine Wahrheit in ihnen, die er nicht verleugnen konnte. Die Vorstellung, mit irgendjemandem verwandt zu sein, hatte er schon seit langem aufgegeben, doch jetzt zögerte er bei dem Gedanken, dass er vielleicht doch zu jemandem gehörte, Teil einer Familie und nicht allein auf der Welt war. Er war wie ein Kind, das sich danach sehnt, das Feuer zu berühren, obwohl es weiß, dass es sich daran verbrennen wird.
Bitte.
Er hatte seinen Vater gegen den Dämon kämpfen sehen, den er vor langer Zeit aufgenommen hatte. Dieser Dämon war genauso Farons Erzeuger, wie es sein Vater war, auch wenn der eine den Körper und der andere den Geist geschaffen hatte.