»Unschuldige Untertanen sterben andauernd im Krieg, Herr«, sagte Gerald Owen barsch. »Vergebt mir meine Unverschämtheit, aber Ihr wart an so vielen Konflikten beteiligt, dass Ihr das sehr wohl wisst. Ihr habt genug Schlachten geschlagen, um daran gewöhnt zu sein. Ihr wart derjenige, der uns gesagt hat, dass das Kommende uns alle verändern wird. Glaubtet Ihr wirklich, dass Euch das nicht ebenfalls betrifft?«
Ashe starrte immer noch auf das Gesicht der toten Frau, als Wolken vor dem Mond vorbeizogen und Schatten darüber warfen.
Gerald Owen hockte sich auf den Boden. »Kommt, wir müssen zur Hohen Warte zurückkehren. Ich trage das Mädchen.«
»Nein«, sagte Ashe. »Das werde ich selbst tun.« Er nahm den Leichnam in seine Arme und trug ihn zurück zu den Pferden. Dann legte er ihn vor sich auf den Sattel, und sie ritten nach Hause.
Tief in seinem Inneren empfand er neben der Trauer und dem Schuldgefühl, die ihn zu verzehren drohten, ein unmissverständliches und unleugbares Gefühl der Erleichterung.
46
Das wilde Schellen der Glocken aus der fernen Kaserne, das von den Türmen Jierna Tals aufgenommen wurde, riss Talquist aus seinem Schlaf.
Die Glocken der Kasernen entlang der Grenze schlugen seit der Invasion regelmäßig tags und nachts bei jedem Wachwechsel oder kündeten ankommende und ausrückende Truppen und Divisionen an. Bisher hatte er sie kaum bemerkt. Doch dieses Geläut war anders; in ihm lag eine Dringlichkeit und Beharrlichkeit, die wie ein böses Vorzeichen wirkte und den zukünftigen Herrscher in Angst und Schrecken versetzte.
Talquist erhob sich von seinem dick mit Seidenlaken ausgelegten Bett und kleidete sich an. Dann trat er hinaus auf den Balkon und schaute über die dunklen Straßen von Jierna’sid, die im Laternenlicht und den unzähligen Fackeln der Patrouillen schimmerten. Der Rauch aus den Gießereien quoll auf der anderen Seite der Stadt in den Nachthimmel und schwebte wie tausend Gespenster in der Luft, bis ein Wind ihn in die Wüste trieb.
»Warum läuten die Glocken?«, wollte er von einer der Wachen wissen, die hier stationiert waren. »Geh und finde es heraus.« Der Soldat verneigte sich und eilte die innere Treppe hinunter.
Einige qualvoll lange Minuten später kam er zurück.
»Der Titan kehrt zurück, Herr«, sagte er.
Der Herrscher zog die Augenbrauen hoch und runzelte bestürzt die Stirn. Er schaute über die Balkonbrüstung auf die Hauptstraße tief unter ihm, wo sich allmählich ein Lärm wie damals erhob, als Faron erstmals an den Ort seiner Belebung auf der großen Schale der Waage zurückgekehrt war. Damals war es ein Lärm des Entsetzens und der Panik gewesen, als die titanische Statue die Straße entlanggetorkelt war, dabei Ochsenkarren zerschmettert und alles, was ihr im Weg gewesen war, vernichtet hatte, vor allem jene Soldaten, die versucht hatten, sie aufzuhalten, bevor sie Jierna Tal erreichen konnte.
Diesmal war der Lärm gedämpft und wirr, aber nicht so aufgeregt.
Die Kommandanten hatten anscheinend mehr Licht befohlen, denn plötzlich loderten die Signalfeuer am Ende der Straße empor und warfen Lichtteiche auf das Pflaster.
Tatsächlich näherte sich der Titan; er warf einen gewaltigen, verzerrten Schatten auf die Gebäude, während die Statue immer näher kam.
Irgendwie war Farons Schritt anders geworden. Im Gegensatz zu der torkelnden Statue, die sich gewaltsam einen Weg durch die Straßen gebahnt hatte, waren Farons Bewegungen nun abgemessen und gleichmäßig. Er ging langsam und aufrecht und verriet eine Körperbeherrschung, die Talquist früher nicht bei ihm wahrgenommen hatte. Er schlenderte mitten auf der Hauptstraße dahin, beachtete weder die Truppen noch die Wagen und näherte sich Jierna Tal auf eine Weise, die bei einem Wesen mit weniger Macht und Kraft nicht einmal bedrohlich erschienen wäre.
Talquist kniff die Augen zusammen. Der Kaufmann in ihm war misstrauisch. Schon oft hatte er Männer mit einem Dolch hinter dem Rücken gesehen, die dahergekommen waren, als wären sie vollkommen sorglos. Daher fand er es immer verdächtig, wenn Situationen, die eigentlich bedrohlich wirken sollten, so harmlos erschienen. Der Schatten des Riesen näherte sich weiter in der Dunkelheit und sprang sodann ins Licht der Flammen, während die Soldaten der Stadtwache in der Gosse standen und leise miteinander flüsterten.
Als die lebende Statue schließlich das Tor in der Palastmauer erreicht hatte, hielt sie inne und hob den Blick zum Balkon, auf dem Talquist stand.
Der Herrscher hielt den Atem an.
Mit der Unterwürfigkeit einer Küchenmagd verneigte sich die Statue; die Arme hatte sie an die Seiten gelegt.
Talquist stieß die Luft wieder aus. Er gab der Wache auf dem Balkon der Bibliothek unterhalb seiner Gemächer ein Zeichen.
»Erteile den Befehl, dass man ihn sofort hereinlässt«, sagte er.
Er wandte sich vom Fenster ab und lauschte dem Gemurmel, das bald erstarb, als das Fallgitter gehoben wurde, das Holz knirschte, die Ketten rasselten und das Gitter schließlich wieder gesenkt wurde.
Talquist zwang sich zur Ruhe, während die Minuten verstrichen. Er setzte sich in seinen großen Walnussstuhl, der einer der ersten Gegenstände war, welche er aus Manosse importiert hatte, nachdem er die Handelsflotte übernommen hatte, und beobachtete sich im Spiegel am anderen Ende des Zimmers.
Ich sehe königlich aus, entschied er. Und nervös.
Die schweren Schritte donnerten über den Stein der inneren Treppe. Talquist schluckte.
Er umfasste die Armlehnen des Stuhls, als die laut hallenden Schritte näher kamen, und zwang sich, ruhig zu atmen.
Schließlich erschien Faron auf der Schwelle am oberen Ende der Treppe. Er warf einen raschen Blick hinüber zu den Wachen auf dem Balkon und deutete dann die Treppe hinunter.
Der Herrscher überlegte kurz, ob er sie noch brauchte. Schließlich nickte er.
»Lasst uns allein«, sagte er.
Die Wachen gehorchten unverzüglich.
»Ich freue mich, dass du zurückgekehrt bist«, sagte er sanft. Die jahrelange Erfahrung mit geschäftlichen Verhandlungen in angespannten Situationen halfen ihm dabei, ruhig zu klingen. »Ich hatte schon befürchtet, du hättest dich verirrt oder wärest sogar gefangen genommen worden.«
Die Muskeln im Gesicht des steinernen Titanen verzogen sich zu etwas, das bei einem lebendigen Menschen ein trockenes Lächeln gewesen wäre.
Bitte, sagte er. Das Wort troff vor Ironie.
Die schwarzen Brauen des Herrschers hoben sich bis zu seinem Haaransatz. Rasch stand er auf und betrachtete den Riesen eingehender. Er bemerkte Einzelheiten, die er an der grob behauenen Statue des alten Soldaten, die er in der Basilika abgeerntet hatte, nicht wahrgenommen hatte. Jetzt erkannte er Augenbrauen, Lider und Wimpern, deutlich hervortretende Gelenke und Finger. Das früher so primitiv gewesene Abbild eines eingeborenen namenlosen Kriegers war zu einem gigantischen Mann geworden, einem Soldaten von titanischen Ausmaßen – beinahe zu einem belebten Gott.
Und obwohl er nicht den Mund bewegte, konnte er sprechen.
Die Stimme widersprach seiner Erscheinung. Es war nicht der tiefe Bass oder das donnernde Röhren, das man seinem äußeren Bild nach erwartet hätte, sondern Farons Stimme war harsch und hoch und hatte etwas Knisterndes an sich. In ihr war der Widerhall anderer Stimmen zu hören, von denen einige tief und sanft, andere wiederum kreischend waren, und sie alle brummten vor frei werdender, unheilverkündender Macht, unter der sich Talquists Nackenhaare vor Furcht aufstellten.
»Was … was hast du denn jetzt vor, Faron?«, fragte er. »Als ich hörte, dass du die Schlacht bei Sepulvarta verlassen hast, dachte ich, du hättest vielleicht keine Lust mehr, das Heer zu führen.«
Richtig.
»Warum bist du denn zurückgekommen?« Talquist biss die Zähne zusammen. Es gab keinen Ort, an den er fliehen konnte.