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»Warum hatte wohl jeder von uns einen eigenen Vorkoster?«, gab Anborn gereizt zurück. »Können wir jetzt zum eigentlichen Thema zurückkehren?«

»Sie war hinter Rhapsody her«, erklärte Achmed. »Sie schien besessen von ihr zu sein und nichts anderes um sich herum wahrzunehmen. Sie hat weder mich noch sonst jemanden bedroht. Sie hat immer wieder Rhapsodys Namen gerufen und den Wind, das Rumpeln der Erde und alles andere, woraus sie Kraft ziehen konnte, dazu benutzt, um Rhapsody zu bedrohen.«

»Tut mir leid, dass ich nich früher gekommen bin«, murmelte Grunthor, wobei seine polierten Hauer unter den aufgeworfenen Lippen hervorstachen. »Ich hätte sie dazu gebracht, was anderes zu kreischen.« Rhapsody sah ihn an und lächelte schwach. Der Sergeant erwiderte dieses Lächeln und verstand den unausgesprochenen Dank in ihrem Blick.

»Es ist schwer zu sagen, ob sie an diesen Wunden gestorben ist oder nicht«, meinte Ashe und betrachtete die Landkarte. »Wie Anborn, ich selbst und alle anderen Abkömmlinge von Elynsynos ist sie kein richtiger Drache. Wenn sie es wäre, dann hätte sie niemals meinen Vater oder Meridion töten können oder auch nur wollen. Kein wahrer Drache bringt einen anderen Drachen um, nicht einmal in einem Streit über die Herrschaftsgebiete, um die sie sich meistens zanken. Anwyn hat nicht die Bedenken und das Gewissen der Rasse ihrer Mutter, und deshalb wird sie vor nichts Halt machen, um ihren Hass herauszulassen. Falls sie den Cwellan-Schuss überlebt hat, wird sie weiterhin aufs Geratewohl erscheinen, wann immer wir sie am wenigsten erwarten, bis sie das bekommen hat, was sie will – und das scheint dein Tod zu sein, Rhapsody.«

Die cymrische Herrscherin nickte und konzentrierte sich immer noch ganz auf den Bericht.

»Ich vermute, dass sie irgendwann an der Wunde sterben wird«, sagte Achmed. »Sie kann sich an niemanden wenden, der ihr die Splitter aus dem Körper zieht, also werden sie Anwyn innerlich zerreißen, sodass sie verbluten wird. Genau das war mir schon immer das Liebste an diesen Scheiben. Wahrscheinlich hat Rhapsody auf lange Sicht nichts mehr von ihr zu befürchten.«

»Ich glaube, das ist unsere geringste Sorge, so gern ich dich auch habe, Rhapsody«, sagte Anborn. »Anwyn mag zwar durch das reine Chaos ihrer Handlungen und Absichten eine gewisse Gefahr darstellen, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie sich mit einem unserer Feinde verbündet. Falls der Bolg-König seinen Bericht beendet hat, sollten wir uns jetzt um das kümmern, was sich an unseren Grenzen abzeichnet.« Rhapsody nickte abermals schweigend und hörte noch immer aufmerksam zu.

»In der Tat«, meinte Rial. Während er sprach, wurde die ledrige Haut seines Gesichts dunkler. »Ich kam uneingeladen her, um Euch den Winterbericht zu überbringen, Herrin. Die Späher an der südlichen und westlichen Grenze haben sehr beunruhigende Informationen gesammelt, die auf ein gewaltiges Zusammenziehen des sorboldischen Militärs, insbesondere der Elitesoldaten aus der Bergwacht an den Grenzen unserer Länder hindeuten. Nie zuvor haben wir die Bergwacht an einer unserer Grenzen gesehen. Das allein ist schon alarmierend genug, aber diese Nachricht hängt zusammen mit einer Zunahme der Blutspiele in den Arenen von Jakar, das an unsere südöstliche Grenze stößt.

Es stimmt, dass Sorbold schon immer Gladiatorenkämpfe erlaubt hat, auch wenn sie zumindest offiziell von der verstorbenen Königinwitwe verboten wurden. Doch nun hat der neue König Talquist das Ende seines Regentschaftsjahres erreicht, und der Verkehr durch unser Land zu den Arenen ist angeschwollen wie ein Fluss im Frühling. Die Massen, die sich auf dem Weg nach Jakar’sid machen, sind gewaltig und gewalttätig, trunken vor Blutlust und Alkohol. Der Waldrand ist schon mehrfach in Brand gesetzt worden, und die Grenzwachen haben bereits einige Aufstände niedergeschlagen, die scheinbar ohne Grund angezettelt wurden und sich einfach nur aus dem Abschaum ergeben, der aus dem Süden heraufzieht. Überdies haben die Wächter unserer Westküste eine zunehmende Zahl nach Norden segelnder Schiffe festgestellt.«

»Nach Norden?«, fragte Anborn. »Gwydion und ich haben gesehen, wie sie sich im Süden gesammelt haben. Berichte es ihnen, Junge.«

Gwydion räusperte sich. »Im Hafen von Ghant haben Anborn und ich fünfundsiebzig dreimastige Kutter, sechzig dreimastige Schoner und mindestens achtzig schwere Lastkähne ankommen und ihre Ladung löschen gesehen, und das alles während eines einzigen Tages. Das entspricht dem Verkehr in Port Fallon in Avonderre, dem geschäftigsten Seehafen Rolands.«

»Und übersteigt bei weitem den im Hafen von Tallono, Tyrians größtem Hafen«, fügte Rial hinzu.

»Nicht einmal in Argaut, das eine halbe Welt entfernt liegt, werden an einem Tag so viele Schiffe entladen. Nur Kesel Tai auf der Insel Gaematria hat ein größeres Handelsaufkommen«, bemerkte Ashe und deutete auf die Landmasse mitten im westlichen Meer. »Oder wenigstens hatte es das. Die Meeresmagier haben den Kontakt mit der übrigen Welt seit kurzem beschränkt. Sie hinken mit der Fertigstellung ihrer Schiffe dramatisch hinterher; die Schiffe, die ich bestelle, werden regelmäßig ein paar Wochen zu spät ausgeliefert. Hat Edwyn Griffyth dir einen Grund dafür genannt, Onkel?«

Anborn schnaubte verächtlich. »Als ob mein Bruder mir etwas sagen würde und als ob ich an dem interessiert wäre, was er zu sagen hat! In der Vergangenheit haben die Meeresmagier immer weniger am Handel mit der übrigen Welt teilgenommen und es vorgezogen, ihre Tage mit magischen Wissenschaften, mit Erfindungen und der Erforschung der Gezeiten sowie mit ähnlichem Unsinn zu verbringen. Schon seit Jahrhunderten sind sie ziemlich nutzlos. Sie waren im Großen Krieg abwesend und zeigen seitdem immer weniger Interesse an unserer Notlage.« Seine azurfarbenen Augen glänzten auf, als ihm ein Gedanke kam, und er wandte sich an Achmed. »Mit Ausnahme dieses Idioten von Botschafter, den mein Bruder im letzten Herbst zusammen mit der Gehmaschine hergeschickt hat. Dieser Kerl schien ja regelrecht darauf zu beharren, mit dir Kontakt aufzunehmen.«

Das abstoßende Äußere des Bolg-Königs verzerrte sich noch mehr. »Das hat er auch getan, dessen kannst du dir sicher sein«, meinte er. »Ich habe ihn trotzdem leben lassen. Das ist wieder einmal deine Schuld, Rhapsody.«

Die cymrische Herrscherin küsste das flaumige Blondhaar ihres Sohnes. Sie beachtete Achmed nicht, sondern schwieg weiterhin.

»Die Schiffe waren mit menschlicher Fracht beladen«, fuhr Gwydion fort. »Es schienen Sklaven oder solche zu sein, die es noch werden, ganze Dörfer von Gefangenen, die wie Vieh in Waggons abtransportiert wurden. Männer, Frauen, Kinder. Ihre Verteilung wirkte gut durchorganisiert. Sie wurden auf den Kais verteilt und in viele verschiedene Richtungen gesandt.«

»Also hat Sorbold in weniger als einem Jahr ein Heer und eine Marine aufgebaut und dadurch seine Kriegsfähigkeit erlangt«, sagte Ashe, als er die steigende Verärgerung seines Onkels über das Thema der Sklaverei bemerkte. »Anborn hatte schon immer einen diesbezüglichen Verdacht, aber wieso ist uns die Geschwindigkeit dieser Kriegsvorbereitungen bisher entgangen? Talquist ist noch nicht einmal als Herrscher inthronisiert, da er sich entschieden hat, ein ganzes Jahr lang nur den Titel eines Regenten zu tragen. Alle Treffen der Botschafter des Bündnisses mit dem neuen Sorbold sind herzlich verlaufen. Seit dem Tod der Herrscherwitwe hat es keine Feindseligkeiten mehr gegeben. Ich habe von keinerlei Überfällen auf Roland, Tyrian oder die Neutrale Zone gehört – außer dem Randalieren von Betrunkenen anlässlich der Gladiatorenkämpfe, von denen Ihr vorhin gesprochen habt, Rial, doch sicherlich wurden dabei keine Gefangenen genommen. Und wenn die Krone von Sorbold plötzlich weitere Schiffe in Manosse oder Gaematria bestellt hätte, wäre ich gewiss von den Hafenmeistern und den Meeresmagiern gewarnt worden.«

»Das sollte man annehmen, vor allem wenn man bedenkt, dass Manosse zum Besitz deiner verstorbenen Mutter gehörte und Gaematria Mitglied des Bündnisses ist«, stimmte Anborn ihm zu.