»Woher kommen all diese Schiffe und Sklaven?«
Während Ashe diese Worte sprach, richtete er sich ruckartig auf, als hätte ihn ein Pfeil im Rücken getroffen.
»Gerald Owen kommt die Treppe herunter«, sagte er leise. »Ich habe den Befehl gegeben, nicht gestört zu werden.«
Gwydion Navarne spürte, wie eine alte Angst in ihm aufquoll, eine staubige und verkümmerte Panik, die ein Überbleibsel aus dem Gemetzel auf dem Winterfest war und dem Speichel in seinem Mund den Geschmack von Metall und Schlacke verlieh. Ashes Drachensinn, der von den Umtrieben in der großen Halle über ihnen geweckt worden war, hinterließ eine knisternde Trockenheit in der feuchten Luft.
Der cymrische Herrscher erhob sich und schritt aus dem glitzernden Kreis zur verborgenen Tür. Er öffnete sie und trat in das dunkle Vorzimmer unter der grob behauenen Treppe.
»Was ist los, Owen?«, wollte er wissen.
Leise antwortete der alte Mann:
»Es ist ein Besucher hier, der Euch sehen will, Herr. Dieser Mann wusste, dass Ihr in einer Besprechung seid. Er hat mir aufgetragen, Euch um eine Audienz zu bitten. Als ich ihn nach seinem Namen gefragt habe, hat er nur gesagt, Ihr und er wäret als Fremde und Gefährten vor vier Jahren zum cymrischen Konzil gereist.«
Ashe stand eine Weile stumm da und warf dann einen Blick zurück in das von Lampen erhellte Zimmer, in dem seine Ratgeber warteten.
»Vielleicht ist soeben die Antwort auf einige unserer Fragen eingetroffen«, sagte er und wandte sich an Gerald Owen.
»Schick ihn herunter.«
6
Die Insassen des verborgenen Raumes sahen einander verblüfft an, als sie Schritte die Steinstufen hinunterkommen hörten.
»Ist er verrückt?«, meinte Anborn mit leiser Stimme. »Er wollte doch unbedingt, dass dieses Treffen im Geheimen stattfindet. Warum im Namen jeder Hure, die ich je beschlafen habe, lüftet er das Geheimnis dieses Zimmers und gestattet einem Eindringling Zutritt? Dein Gemahl ist ein Narr, Rhapsody.«
»Darüber wirst du von uns keine Widerrede hören«, sagte Grunthor.
Die cymrische Herrscherin erhob sich. Sie war noch immer schwach und trat mühsam hinüber zur Tür.
Aus der Dunkelheit am Fuße der Treppe trat eine in Umhang und Kapuze gehüllte Gestalt. Der Mann ging sofort zu Ashe und sprach mit sanfter Stimme ein paar leise Worte mit ihm, dann folgte er ihm in die verborgene Kammer. Der Herr der Cymrer schloss die Tür hinter ihm.
Trotz des unförmigen Umhangs aus grobem Stoff war es deutlich zu sehen, dass der Mann groß und breitschultrig war – größer als alle Anwesenden mit Ausnahme von Grunthor. Er verneigte sich nicht, sondern wandte sich kurz Rhapsody und dem Kind zu, streckte dann eine große, in einer Umhüllung aus Lammleder steckende Hand aus und legte sie vorsichtig auf den Kopf des Kindes.
Gwydion Navarne betrachtete das seltsame Schauspiel in tiefem Schweigen.
Mit der anderen Hand nahm der Mann die Kapuze ab und enthüllte Haare, die vom Alter grau und silbern waren, auch wenn noch genügend Weißblond aus seiner Jugend darin zu sehen war. Sein Bart war lang und an den Enden leicht gewellt, und die Augen waren klar und blau wie ein wolkenloser Sommertag. In ihnen spiegelte sich das flackernde Licht der Laterne.
Es war Constantin, der Patriarch von Sepulvarta.
Noch lange, nachdem Gwydion begriffen hatte, dass er eigentlich niederknien sollte, blieb er wie erstarrt an seinem Platz, und schließlich stand er auf, nur um sogleich auf ein Knie zu sinken. Sein Vater Stephen Navarne war ein Anhänger der patriarchalischen Religion gewesen, obwohl er ein guter Freund Llaurons des Fürbitters gewesen war, des früheren Oberhaupts des filidischen Ordens der Naturpriester; doch er war mit den religiösen Bräuchen beider Sekten vertraut gewesen und hatte beide geachtet. Stephens Haltung war in der engen und abgeschotteten Welt des Glaubens einzigartig gewesen und hatte sowohl von der Lage seines Herzogtums als auch seiner entgegenkommenden Art hergerührt. Navarne lag zwischen dem nördlichen Gwynwald, der östlichen Grenze des benachbarten Herzogtums Avonderre und dem Nordrand Tyrians und war so zur Kreuzung der verschiedenen Glaubensrichtungen des Kontinents geworden.
Daher war Gwydion Navarne die Bedeutung der Tatsache, dass der Patriarch im Heim seiner Familie erschien, durchaus bewusst. Der Patriarch verließ Lianta’ar, die Sternenbasilika in Sepulvarta, nur zu wichtigen Anlässen wie einem Staatsbegräbnis, einer Heirat in einem Herrscherhaus oder einer Krönung – oder in den schlimmsten Notfällen.
Soweit Gwydion wusste, sollte gegenwärtig kein Mitglied einer Herrscherfamilie beerdigt, verheiratet oder gekrönt werden.
Der Patriarch zog die weißen Brauen zusammen und deutete ungeduldig auf Gwydion.
»Steh auf«, sagte er knapp. »Es ist zu eng hier, um so etwas zu tun, und es geziemt sich nicht für einen Mann, der zum Herzog einer orlandischen Provinz gemacht wurde. Steh auf und setz dich.« Gwydion gehorchte beschämt.
»Was führt Euch hierher, Euer Gnaden?«, fragte Ashe rasch und bot dem Patriarchen einen Platz an.
Der Körper des heiligen Mannes war zwar alt, besaß aber immer noch Anzeichen großer Stärke aus seiner Jugend. Er machte eine zurückweisende Geste.
»Ich kann nicht lange hier bleiben, denn man darf nicht entdecken, dass ich Lianta’ar verlassen habe«, erwiderte Constantin. »Ich bringe beunruhigende Nachrichten – aber wie es aussieht, bin ich da nicht der Einzige.«
»Tretet in den Kreis. Rial, Anborn und Gwydion haben gerade von den Kriegsvorbereitungen Sorbolds berichtet«, erklärte Ashe, während er sich neben Rhapsody setzte. Liebevoll fuhr er mit der Hand über den Kopf seines Sohnes. »Es scheint so, dass Roland und vielleicht auch die anderen Mitglieder des Bündnisses die Ziele des beabsichtigten Angriffs sind.«
»Möglicherweise«, stimmte der Patriarch ihm zu, als er sich in den schützenden Lichtkreis begab. »Einige werden vor euch fallen, andere nach euch, wenn alles nach Talquists Willen geschieht.«
Die Stille im Raum wurde immer dichter, bis sie beinahe handgreiflich war.
»Sagt uns, was Eure Meinung ist, Euer Gnaden«, meinte Anborn schließlich.
Die durchdringenden blauen Augen des alten Mannes fingen das Licht der Laterne ein, spiegelten und verstärkten es.
»Der erste Ort, den Talquist angreifen wird, ist Sepulvarta. Schon jetzt ziehen sich seine Truppen an den Bergen südlich von uns zusammen. Der heilige Stadtstaat ist das Tor zu Roland und dem Mittleren Kontinent. Talquist wird seine Füße an uns abwischen, wenn er die Schwelle zu euren Ländern überschreitet. Daran hege ich keinen Zweifel.«
»Die heilige Stadt?«, fragte Gwydion, der vor Entsetzen nur langsam sprechen konnte. »Wie ist das möglich? Sorbold hängt dem patriarchalischem Glauben an! Eine der fünf Elementar-Basiliken befindet sich auf seinem Gebiet. Selbst in den schrecklichsten Schlachten des Cymrischen Krieges, als alles andere vernichtet wurde, blieb Sepulvarta verschont. Es wäre eine Beleidigung des All-Gottes …«
»War es nicht auch eine Beleidigung des All-Gottes – oder des Einzigen Gottes, wie die Lirin ihn nennen –, als die Dritte Flotte vor tausend Jahren den heiligen Gwynwald zerstört hat? Wir haben den Äußeren Kreis verbrannt und sogar den Großen Weißen Baum angegriffen«, sagte Anborn verbittert. »Ich – Elynsynos’ eigener Enkel – habe diese Angriffe angeführt. Im Krieg ist nichts heilig. Dass Sepulvarta bislang unzerstört geblieben ist, ist nichts als Zufall – ein Wunder.«
»Der Marschall spricht die Wahrheit«, bestätigte Constantin. »Der Krieg wird zuerst zu uns kommen; er hat schon begonnen. Einer der drei Gründe, warum ich heimlich hierher gereist bin, besteht darin, Euch davor zu warnen, Herrscher der Cymrer. Ich bin auch gekommen, um Euch zu sagen, dass Nielash Mousa, der Segner von Sorbold und einer meiner Hauptseligpreiser, im Sterben liegt und vielleicht sogar schon tot ist. Er hat sein Leben zum Schutz von Terreanfor hingegeben, der Basilika des Lebendigen Steins in Jierna’sid.«