»Das stimmt«, pflichtete der Patriarch ihm bei. »Es fehlt sogar noch eine Menge – viel mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
Etwas in der Stimme des heiligen Mannes ließ Gwydion das Blut gefrieren. Das Konzil hatte in geradezu unbeteiligter Haltung Informationen von schrecklichen Auswirkungen gesammelt, die unermesslichen Schmerz vorhersagten; es war, als könnte angesichts der bevorstehenden Invasion und eines Krieges, der Tausenden den Tod bringen würde, nur die kälteste Logik helfen. Doch in Constantins Worten lag etwas Tieferes, etwas Unweltliches. Ein rascher Blick verriet Gwydion, dass auch die anderen die unheilvolle Warnung verstanden hatten. Rhapsodys Augen schimmerten, und ihr Gesicht war erstarrt.
»Sagt es uns«, meinte Ashe schließlich.
Der Blick des Patriarchen schweifte von einem Anwesenden zum nächsten. Schließlich schlug er die Augen nieder, als wolle er die anderen nicht mit seinem Blick durchbohren.
»Es fehlt noch vieles, aber ich werde mit dem beginnen, das Eurer Familie am nächsten liegt. Marschall, Eure Tante Rhonwyn – und Eure Großtante, cymrischer Herrscher –, die Seherin der Gegenwart, ist aus der Abtei der Sonne in Sepulvarta entfernt worden.«
Die Mitglieder der Versammlung sahen einander verständnislos an. Rhonwyn war wie ihre Schwestern ein lebendes Relikt und besaß die Gabe, das Schicksal zu sehen. Obwohl sie im Gegensatz zu ihren Schwestern sanft und zerbrechlich war, war der größte Teil der Bevölkerung, der um ihre Existenz wusste, zu ängstlich oder schüchtern, um auch nur ihrem Blick zu begegnen. Ein paar wagemutige Seelen nahmen bisweilen all ihren Mut zusammen und näherten sich ihr, um eine Prophezeiung von ihr zu erlangen, doch oft liefen sie entsetzt davon, noch bevor sie das Gewünschte erhalten hatten.
»Was meint Ihr mit ›entfernt‹?«, fragte Ashe rasch.
»Auch wenn die Äbtissin es nicht gesehen hat, glaubt sie, dass die Seherin entführt wurde«, erklärte der Patriarch. »Ich habe Sepulvarta sofort verlassen, als ich diese Nachricht erhielt, obwohl ich bereits entschlossen war, mit anderen Botschaften zu Euch zu kommen. Als die Äbtissin vor elf Tagen die Treppe zum Turm der Seherin hochstieg, um ihr das Frühstück zu bringen, war sie verschwunden. Rhonwyn hat die Abtei in den letzten hundert Jahren nur verlassen, um an dem cymrischen Konzil teilzunehmen, auf dem Ihr, Herr und Herrin, als Herrscher eingesetzt wurdet. Sie ist unfähig, aus eigener Kraft draußen zu überleben.«
Stumm tauschten Achmed und Rhapsody einen raschen Blick aus. Vor ein paar Jahren waren sie dieselbe Treppe hochgestiegen, um die hinfällige Seherin zu besuchen, die eine der Töchter der Drachin Elynsynos und Merithyns war, des alten serenischen Erforschers, der ihr Liebhaber gewesen war. Die drei Schwestern, die in der Sprache der Cymrer als die Manteiden bekannt waren, hatten bei ihrer Geburt die überragende Gabe des Sehens mitbekommen, und alle drei waren gezwungen, über das, was sie sahen, nur die Wahrheit zu sagen, auch wenn diese nicht immer mit größter Genauigkeit ausgesprochen wurde.
Jede der drei Schwestern wurde – zumindest in gewisser Hinsicht – als geisteskrank angesehen. Anwyn, die Seherin der Vergangenheit, war die normalste der drei, denn die Vergangenheit war ein konkreteres Reich als die flüchtige Gegenwart oder die unsichere Zukunft, und sie war bekannt dafür, sehr zurückhaltend im Umgang mit ihrer Gabe zu sein und die Kenntnisse, die sie ihr verschaffte, zu horten und nur dann weiterzugeben, wenn sie es für richtig hielt.
Manwyn, die Seherin der Zukunft, war sowohl die unausgeglichenste als auch die begehrteste, denn ihre Fähigkeit, das zu sehen, was noch nicht geschehen war, schürte in vielen verzweifelten Pilgern die Hoffnung, dass sie mit Manwyns Hilfe das erlangen oder verhindern konnten, was sie anderweitig weder zu erlangen noch zu verhindern mochten. Allerdings verließen die meisten ihren zerfallenden Tempel enttäuscht oder verblendet, denn die Prophezeiungen, die diese Wahnsinnige ihnen vorsang, ließen oftmals die vielfältigsten Deutungen zu.
Rhonwyn, die zerbrechlichste der Schwestern, besaß hingegen den klarsten Blick auf die Wirklichkeit. Die Schwierigkeit bestand nur darin, dass dieser Blick so flüchtig war. Während die Sekunden vergingen, verwandelte sich die Gegenwart in Vergangenheit, und Rhonwyn erinnerte sich vom einen Augenblick auf den anderen nicht mehr daran, was sie gefragt worden war oder was sie gesagt hatte. Nur wenige besaßen die Geduld oder Einsicht, länger als ein paar Minuten mit ihr zu reden, doch auch sie gaben irgendwann enttäuscht auf und ließen sie in ihrer verfallenden Abtei allein zurück, während sie in sich hineinlächelte und mit ihren blinden Augen, die keine Iris hatten, in den Himmel starrte.
»Etwa eine Woche vor dem Verschwinden der Seherin war sie regelmäßig von einem Priester aus dem Pfarrhaus zu Sorbold in der Stadt Sepulvarta besucht worden«, fuhr der Patriarch bedeutungsschwer fort. »Jeden Tag war dieser Mann mit zwei Messdienern in die Abtei gekommen, war die Treppe hinaufgestiegen und hatte eine einzige Frage gestellt. Dann ging er und kam am nächsten Tag um dieselbe Zeit zurück.«
»Hat die Äbtissin zufällig die Gespräche mitbekommen?«, fragte Achmed.
»Nach einigen dieser täglichen Besuche hatte sie sich angewöhnt, im äußeren Garten unter Rhonwyns Turm zu arbeiten, wenn der Geistliche eintraf«, sagte Constantin. »Sie hat mir gesagt, dass bei drei Gelegenheiten dieselbe Frage gestellt wurde, und zwar an den letzten drei Tagen vor dem Verschwinden der Seherin.«
»Und wie lautete diese Frage?«, wollte Anborn wissen.
Der Patriarch warf einen raschen Blick auf Rhapsody. »Die Frage, die der Priester stellte, war: ›Wo ist das Kind der Zeit?‹ Bei zwei Gelegenheiten, zu denen die Äbtissin lauschen konnte, schwieg die Seherin zunächst darauf und sagte dann nur, es gebe kein Kind der Zeit. Aber anscheinend erhielt der Priester am letzten Tag eine andere Antwort. Nach meiner Schätzung muss das am Wechseltag des neuen Jahres gewesen sein.« Seine Stimme wurde leiser. »Wann wurde Euer Sohn geboren?«
Die cymrische Herrscherin wurde blass, und Achmed und Ashe tauschten einen raschen Blick aus.
»Am Neujahrstag«, sagte Ashe schließlich, »als die Nacht von einem Tag zum nächsten und von einem Jahr zum nächsten voranschritt. Aber warum sucht ein sorboldischer Priester dieses Kind – unser Kind, falls es das so genannte Kind der Zeit sein sollte?«
»Weil sein Herrscher und Gebieter schon seit langem unablässig nach diesem Kind sucht«, antwortete der Patriarch düster. »Ich habe es in seinen Gebeten und in denen der verbliebenen Priester von Sorbold gehört.« Er betrachtete Gwydion Navarne, den einzigen Anhänger dieser Religion im Konzil. »Im Gegensatz zum filidischen Orden von Gwynwald werden bei uns die Gebete nicht unmittelbar an den Schöpfer gerichtet, sondern durch den Pastor eines jeden örtlichen Tempels übermittelt, der diese und die anderen Gebete der Gegend den Äbten mitteilt, welche sie wiederum zu den Segnern ihres Bezirks bringen, die sie schließlich mir im Gebet zukommen lassen. Ich lege sie dann im großen Turm von Lianta’ar demütig dem All-Gott vor. Bei jedem Schritt werden die Anrufungen mächtiger und reiner, weil sie durch so viele andere Gaben und Danksagungen verstärkt werden. Üblicherweise kümmere ich mich nicht um den Inhalt der Gebete, denn es ist nur meine Aufgabe, meine eigenen Bitten um die Gnade des All-Gottes hinzuzufügen und die Gebete darzubringen.
Doch wie ich euch schon sagte, ist Nielash Mousa, der Segner von Sorbold, tot oder liegt zumindest im Sterben. Und Talquist hat viele unseres Ordens getötet, besonders jene, die im Pfarrhaus zu Jierna Tal lebten.«
»Warum?«, fragte Ashe ungläubig.