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Constantin runzelte die Stirn. »Dazu kommen wir gleich«, sagte er düster. »Eine Auswirkung dieses Gemetzels besteht darin, dass die Gebete der Gläubigen aus Sorbold verstreut und in die Irre geleitet wurden. Also kommt man nun unmittelbar zu mir, und daher höre ich die Gebete, was mich von meinen anderen Aufgaben ablenkt. In der letzten Zeit habe ich immer wieder ein und dieselbe Bitte im Namen des Herrschers an den All-Gott gehört – nämlich, das Kind der Zeit zu finden.«

»Ich frage Euch noch einmaclass="underline" warum?«, meinte Ashe mit dunklerem Tonfall. Die Luft wurde spürbar trockener, als der Drache in seinem Blut sich aufregte.

Der alte Priester erwiderte Ashes Blick und seufzte. Einen Moment lang spiegelte sein Gesicht sein wahres Alter wider.

»Wenn Ihr mich nach Talquists Gründen fragt, dann kann ich Euch keine Antwort darauf geben. Ich höre seine Gebete, doch ich kann nicht in sein Herz blicken, obwohl ich weiß, dass es schwarz und verzerrt ist. Aber ich kann mir einen möglichen Beweggrund vorstellen, auch wenn ich zum All-Gott bete, dass ich unrecht habe.«

»Sagt es uns«, befahl Anborn ungeduldig, doch Ashe hob eine Hand und gebot seinem Onkel Einhalt. Er hatte gesehen, wie sich in den stechenden blauen Augen des Patriarchen Wolken bildeten, und er wusste, dass Constantin nun auf etwas Schreckliches schaute. Er sah Rhapsody rasch an, die so weiß wie das Laken war, in dem sie ihr Kind wiegte.

»Bitte, Euer Gnaden«, sagte er gelassen. »Erklärt es uns, auf welche Weise Ihr es auch immer für angebracht haltet.«

Constantin schwieg weiterhin. Während er in Gedanken versunken wartete, schien es Gwydion, als werde der letzte Rest der zitternden Luft im Raum aufgesogen und verschwände. Als der Patriarch schließlich sprach, waren seine Worte sanft.

»Immer wieder hat es jene gegeben, die hinter das Reich des Sichtbaren auf die Orte blicken, in denen das Auge keine Herrschaft ausüben kann«, sagte er. »Manchmal ist diese besondere Hellsichtigkeit eine Gabe, die schon bei der Geburt gewährt wird, oder sie ist ein außergewöhnliches Erbe. Sie ist eine Fähigkeit, die allerdings auch unter besonderen Umständen erlernt werden kann, und zwar von jemandem mit großen Kenntnissen darüber. Manchmal handelt es sich nicht um die Fähigkeit zu sehen, sondern um die Möglichkeit, die Grenzen des gewöhnlichen Blicks mit Hilfe von Instrumenten zu überschreiten, die dazu in der Lage sind. Ich weiß nicht, welcher dieser Methoden sich Talquist bedient hat, aber ich vermute, dass er es mindestens einmal und vielleicht sogar öfter getan hat. Der Ort, auf den er einen unerlaubten Blick geworfen hat, ist möglicherweise jener Ort zwischen den Türen des Lebens und des Todes, also der Schleier des Hoen, von dem wir eben noch gesprochen haben.

Für jene von euch, die nicht dort gewesen sind, muss ich erklären, dass der Schleier des Hoen ein Ort der Träume und das Reich des Herrn und der Herrin Rowan ist. Die Herrin ist die Bewahrerin der Träume, die Wächterin des Schlafes, Yl Breudiwyr. Der Herr ist die Hand der Sterblichkeit, des friedlichen Todes, Yl Angaulor. An jenem Ort des Übergangs gibt es viele Dinge, die in unserer materiellen Welt nicht bekannt sind. Eines dieser Wesen wird die Weberin genannt. Kennt ihr sie?«

»Ihr habt sie mir gegenüber schon einmal erwähnt, aber außerhalb Eurer Welt weiß ich nichts über sie«, sagte Ashe.

»Die Weberin ist eine der Manifestationen des Elements der Zeit«, erklärte der Patriarch ernst. »Jene, die um die Gaben des Schöpfers wissen, zählen für gewöhnlich fünf weltliche Elemente, nämlich Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther. Doch außerhalb unserer Welt existieren noch weitere Elemente. Eines davon ist das Element der Zeit, und die Zeit in ihrer reinen Gestalt manifestiert sich auf viele Arten. Die Weltenbäume – die Sagia, der Große Weiße Baum und die drei anderen, die an den Geburtsorten der Elemente wachsen – sind Manifestationen der Zeit. Genau wie die Weberin.

Die Weberin tritt als Frau auf, oder zumindest scheint es so, obwohl man sich nie an ihr Gesicht erinnern kann, wenn man ihr begegnet ist, wie eingehend man es auch betrachtet haben mag. Sie sitzt an jenem schläfrigen, zeitlosen Ort vor einem gewaltigen Webstuhl, auf dem die Geschichte der Zeit in farbigen Fäden und Mustern mit Kette und Schuss gewoben wird.

Die Weberin ist die Manifestation der Zeit im Lauf der Geschichte«, fuhr er fort. »Sie mischt sich nicht in den Lauf der Dinge ein, sondern zeichnet sie lediglich für die Nachwelt auf. Sie webt einen faszinierenden Teppich mit ungeheuer verwickeltem Muster. Alle Dinge, alle Wesen sind Fäden im Gewebe; es ist ihr Zusammenspiel, was wir als Leben bezeichnen. Ohne die Verbindungen der Fäden untereinander gäbe es nur die Leere, die Abwesenheit von Leben.«

Ashe nickte. »Als Ihr mir dies früher einmal erklärt habt, sagtet Ihr, dass in diesen Verbindungen die Macht steckt – dass diese Fäden die Seelen auf der Erde und im Jenseits miteinander verbinden. Es sind die in diesem Leben geschlossenen Verbindungen, die es den Seelen im nächsten erlauben, einander wieder zu finden. Auf diese Weise überdauert die Liebe die Zeiten.« Er legte die Hand auf Rhapsodys, und sie tauschten einen Blick aus, der trotz der bevorstehenden Bedrohung ein Lächeln auf ihre Gesichter legte.

»Das habe ich gesagt«, stimmte ihm der Patriarch zu. »Aber ich habe Euch nicht gesagt, was ich in dem Teppich bemerkt habe, den sie webt. In dieser gewaltigen Aufzeichnung der Geschichte gibt es Millionen von Fäden, die miteinander zu einem vollkommenen Abbild der Geschichte der Zeit verwoben sind.

Aber an einer Stelle befindet sich ein Makel. Es handelt sich um eine Abweichung, die man bei einem Teppich auf dieser Seite des Schleiers kaum bemerken würde, falls man sie überhaupt erkennt. Es ist eine Unvollkommenheit im Faden oder in der Technik. Aber eine Unvollkommenheit in der Geschichte, die sich bereits ereignet hat, sollte im Teppich der Weberin unmöglich sein, denn es handelt sich nur um eine Aufzeichnung des Vergangenen ohne Veränderlichkeit oder Zweideutigkeit. Es ist beinahe so, als wären die Fäden der Zeit an dieser Stelle auseinander genommen und neu verwebt worden – als ob die Zeit selbst an diesem einen Punkt in der Vergangenheit verändert worden wäre.«

Lange Zeit war das einzige Geräusch das Knistern der Laternenflamme.

»Die Zeit – neu verwebt?«, fragte Ashe schließlich. »Wie kann das sein? Habt Ihr nicht gesagt, dass die Weberin sich nicht in die Geschichte einmischt, sondern sie nur aufzeichnet?«

»Ja«, meinte der Patriarch. »Soweit ich weiß, tut sie das nicht. Aber die gespaltenen Fäden, die Unvollkommenheiten in der Geschichte tauchen im ganzen Teppich nur an einer einzigen Stelle auf, soweit ich es erkennen konnte. Es muss im Dritten Zeitalter geschehen sein, zu Beginn des serenischen Krieges und Jahrhunderte vor Gwylliams Krönung und dem Auszug der Cymrer aus Serendair.«

Gwydion sah, wie das Blut aus allen Gesichtern im Raum wich; besonders seine Beschützer wurden leichenblass.

»Gibt es Hinweise darauf, wie die Zeit verändert wurde?«, fragte Rial.

Constantin schüttelte den Kopf. »Es ist nur eine Prophezeiung, die in die Fäden über dem Fehler eingewoben ist, ein Rätsel, welches dem Ereignis vorhergeht, das die Geschichte beeinträchtigt hat.«

»Erinnert Ihr Euch daran?«, fragte Anborn angespannt.

»Allerdings«, erwiderte der Patriarch. »Es war einer der Hauptgegenstände meiner Studien, während ich hinter dem Schleier war, aber ich konnte es nie mit anderen geschichtlichen Geschehnissen in Verbindung bringen. Es scheint die letzte Prophezeiung zu sein, die in der reinen Zeit ausgesprochen wurde, bevor sich das ereignete, was die Veränderung herbeiführte.«

»Sagt es uns, Mann, und zwar schnell!«, befahl Anborn harsch.

Der Patriarch warf ihm einen unwilligen Blick zu und wandte sich dann an die cymrische Herrscherin, deren Gesicht nun so bleich wie Milch war.

»Ich spreche diese Worte zu Euch als lirinische Benennerin, Herrin, in der glühenden Hoffnung, dass Ihr in der Lage seid, sie zu verstehen«, sagte er sanft. »Meines Wissens sind sie noch nie in dieser Welt ausgesprochen worden, denn sie haben ihren Ursprung vor der Veränderung der Zeit.« Er räusperte sich und sprach die Worte sorgfältig aus.