Rath verweilte noch einen Augenblick und drehte dann seinen Rücken dem Westen zu, fort vom Donnern der Wellen und dem Rauschen der Gischt. Er atmete den salzigen Wind durch die vier Öffnungen seiner Luftröhre ein, biss die Zähne zusammen und ließ seinen Kirai los, die Schwingung des Seekönigs, mit der seine Rasse ihre Beute aufspürte. Der sirrende Laut drang aus der tiefsten Öffnung in seiner Kehle und war nur von ihm selbst zu vernehmen.
Dann öffnete er den Mund und gestatte der Luft, die aus seiner Lunge aufstieg, durch die oberste Öffnung seiner Kehle zu entweichen, wodurch er wieder hörbare Wörter bildete.
Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.
Einen nach dem anderen sang er die Namen der Dämonengeister heraus, die er jagte, und spürte die leichte Veränderung im Ton, während er von einem zum nächsten wechselte. Wenn der Kirai eine Übereinstimmung eines dieser Namen mit einer Schwingung in der Luft feststellte, würde Raths Kehle wie in beißendem Feuer brennen; er würde das Blut der Bestie in seinem Mund schmecken und seinen Herzschlag in der eigenen Brust spüren. Er würde sich an diesen Rhythmus festklammern und ihm folgen.
Doch wie üblich lag kein Geschmack dieser Namen im Wind.
Schließlich stimmte er den letzten Namen an.
Ysk.
Dieser Name war natürlich anders. Im Gegensatz zu den übrigen war es der tote Name eines lebenden Wesens – ein Name, der in einem anderen Leben einem Mann mit einer Seele gegeben worden war. Wie verdorben diese Seele auch immer durch die Verheerungen der Zeit und des persönlichen Versagens sein mochte, sie konnte dennoch nie so beißend böse wie die Essenz der dämonischen Wesen sein, auf die Rath und seine Gefährten für gewöhnlich Jagd machten. Auch wenn dieser Name tot war, so hatte Rath doch Grund zu der Annahme, dass sein Träger noch lebte, obwohl sich seine Schwingungssignatur sicherlich zusammen mit dem Namen verändert hatte.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er den toten Namen laut im plaudernden Wind gehört. Er hoffte, seinen Geschmack wieder zu finden, da er nun das Meer überquert hatte und schließlich an dem Ort angelandet war, wo er den Namen aufgespürt hatte – an dem Ort, wo er zum letzten Mal laut ausgesprochen worden war.
Er sog die Luft ein, erlaubte dem Wind, über seine Zunge zu gleiten, und sang den Namen.
Ysk.
Noch immer lag eine Spur von ihm im Wind, der aus Südosten blies, auch wenn sie schwach und hohl war; es mochte viele Jahre her sein, seit sie erklungen war. Doch auf diesem Kontinent und an diesem Ort, der in den alten Überlieferungen als die Wyrmlande bekannt war, war zuletzt der Name ausgesprochen worden. So viel vermochte Rath zu schmecken.
Zufrieden holte er sein Bündel unter dem Mantel hervor und öffnete es vorsichtig auf dem sandigen Boden, während der Wind vom Meer herbeiwehte und über die Haut seines entblößten Kopfes fuhr. Rasch überprüfte Rath seinen Proviant und die wenigen Werkzeuge, die er für seine Tätigkeit benötigte, sowie den Dolch, den er in einer kalbsledernen Scheide trug. Die Waffe war kaum mehr als ein Kindermesser und lediglich zur Selbstverteidigung gegen Mensch oder Tier bestimmt, wenn alle anderen Mittel versagten. Niemand, der ihn ansah, würde auf den Gedanken kommen, dass er bewaffnet war.
Seine tödlichsten Waffen trug Rath in seinem Kopf.
Nachdem er beschlossen hatte, dass der Wasservorrat ausreichte, packte er seinen Proviant schnell wieder zusammen und schwang das Bündel unter seinen fließenden braunen Mantel. Dann warf er einen letzten Blick auf das Meer. Das kleine Boot war nicht mehr zu sehen; es war untergegangen im flammenden Schein der aufgehenden Sonne.
Einen Moment später war auch Rath für alle anderen Augen als die seinen unsichtbar geworden.
2
Dasselbe Sonnenlicht, das hunderte Meilen entfernt auf dem Meer glitzerte, erhellte auch den frostigen Tau in der Luft und badete den Wald in weißliches Strahlen. Lanzen aus staubigem Gold erleuchteten die kahlen Stämme und Äste der weißen Bäume, die sich dadurch noch stärker von den benachbarten immergrünen, von gefrorenem Schnee gefleckten Gewächsen abhoben.
Kein Wintervogel durchbrach die Morgenstille mit seinem Lied, kein Rascheln in den Zweigen oder im Unterholz deutete die Gegenwart eines jener Waldbewohner an, die für gewöhnlich den kalten Monaten trotzten; niemand spürte den Beginn der Zweiten Tauwetterperiode, die sich schon seit einer ganzen Mondumdrehung ankündigte. Dieser Ort, der sonst von wilder Musik erfüllt war, gab keinen Laut von sich. Keine Äste bewegten sich an den Nadelgehölzen, nirgendwo knackte die Last des Eises im ausgegossenen Sonnenlicht. Selbst der Wind, ein beharrlicher Sänger, der so oft auch dann noch die kahlen Zweige schüttelte und durch die schwer mit Schnee beladenen Kiefern fuhr, wenn alle anderen Geräusche den Wald verlassen hatten, war nun still.
Totenstill.
Als die Sonne höher stieg, löste sich die kalte Feuchtigkeit in der Morgenluft etwas auf und brachte der Szenerie Klarheit, wenn auch weder Wärme noch Geräusche. Der tief über dem Boden hängende Nebel hob sich allmählich, eisige Luft wirbelte über der Erde, die sich mit dem nahenden Ende des Winters erwärmte. Und als die Luft klarer wurde, fiel das Licht, das sich in die stille Klamm ergoss, auf ein gewaltiges Gebilde, das zwischen geborstenen Bäumen und inmitten verbrannter Grasflächen aufragte und die Stelle bezeichnete, an der ein Teil der Welt gestorben war.
Als das Gebilde noch in Nebel gehüllt gewesen war, hatte es wie eine Ansammlung von grauen Felsblöcken ausgesehen, gefleckt mit Glimmer, aufsteigend aus dem weichen Lehm des Waldbodens. Doch als die Sonne durch die eisige Luft brach, wurden die Umrisse des Steins klarer, und seine behauenen Ränder enthüllten Drachenmerkmale: Steinstacheln, die sich über ein zusammengerolltes Rückgrat erhoben, bekrallte Klauen, die schützend um die Gestalt geschlungen waren, und ein geschwundener Schweif, der in einem grausamen Widerhaken auslief. Das Licht des dämmernden Morgens zeigte immer deutlicher, dass es sich um die riesige Statue eines Drachen handelte, der in einer schützenden Haltung hingekauert dalag. Jede Einzelheit war vollkommen herausgemeißelt, bis hin zu den winzigsten Schuppen auf seiner Steinhaut, die von Aschenstreifen bedeckt war. Ein klaffendes Loch war in seine Flanke gebohrt.
Die Augen in dem verwitterten Gesicht waren geöffnet. Selbst der größte Bildhauer der bekannten Welt wäre nicht in der Lage gewesen, die Tiefe der Trauer und den Frieden des Sichergebens im Ausdruck des Drachen auch nur anzudeuten.
Der Nebel wirbelte umher, löste sich aber nicht auf, sondern hing immer noch schwer in der kalten Luft, so wie es jeden Morgen seit Neumond gewesen war.
Dann erschien unter dem Nebel ein Lichtwirbel, der sich flüchtig unter der eisigen Wolkendecke drehte.
Dann noch einer. Und wieder einer.
Aus allen Ecken des Waldes erschienen nun große, schlangenhafte Körper. Wenn ein menschliches Auge zugegen gewesen wäre, hätte es die Gestalten zunächst nicht erkennen können. Die meisten der Wesen, die sich hier versammelten, hatten eine ätherische Gestalt angenommen. Sie waren aus eigenem Willen körperlos und bestanden aus Sternenlicht, das älter als die Welt war. Leichter als Luft, schwebten sie im schweren Nebel der Klamm. Als ihre Reise zu einem Ende gekommen war und sie ihr Ziel erreicht hatten, verdichteten sich die großen Drachen der Welt und wurden zu dem Fleisch, das ihnen ihre Verbindung zum uranfänglichen Element der Erde gewährte.
Die Macht, die sie mitgebracht hatten, durchdrang die Luft des Waldes und machte sie schwer vor uraltem Leben. Mitten unter ihnen zu stehen, wäre wie ein Ertrinken in einer Lawine aus Quecksilber gewesen, oder wie ein Zerquetschtwerden durch Mühlsteine aus Rubin. Diese uranfänglichen Drachen, die gewaltigen Gefäße aller Überlieferungen der Welt, die Wächter der Erde verwalteten ihr Amt mit althergebrachtem Argwohn, Misstrauen und Herrschaftsanspruch.