Und zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten freute er sich insgeheim darauf.
Er lehnte sich so weit wie möglich zurück, packte seine nutzlosen Beine und streckte sie aus, während Gerald Owen und Melisande Navarne mit Tabletts voller Speisen den verborgenen Raum betraten.
Er kniff die Augen zusammen, als er das junge Mädchen mit den goldenen Ringellocken sah, das ein Tablett auf dem Tisch vor ihm abstellte.
»Wer ist das?«, wollte er schroff wissen. »Ich war der Meinung, dass dieses Treffen geheim ist, und du bringst ein unbekanntes Dienstmädchen her, bei dem es sich vermutlich um eine Spionin handelt.«
Das Mädchen rollte die schwarzen Augen in kühner Verärgerung. »Denk dir mal einen neuen Witz aus, Marschall«, sagte es, hob den Deckel vom Tablett und reichte ihm eine Leinenserviette. »Du weißt sehr wohl, dass ich Melisande Navarne bin, denn schließlich bist du mein Pate und hast mich wie einen Ball herumgeworfen, seit ich ein Kind war.«
»Genau deshalb weiß ich, dass du eine Betrügerin bist«, sagte Anborn selbstgefällig, während er sich die Serviette über die gelähmten Beine legte. »Melisande Navarne ist noch immer ein Kind; sie ist nicht länger als mein Unterarm zwischen Handgelenk und Ellbogen.« Wie um seinen Worten Nachdruck zu verliehen, schlug er sich mit der Hand gegen den Arm. »Du aber bist ein großes, unverschämtes Ding und kannst unmöglich dieses süße kleine Mädchen sein.«
Melisande nahm die Haltung einer Dienstmagd ein und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
»Auch wenn es mich schmerzt, dich daran erinnern zu müssen, dass du alt wirst, Marschall …«
»Autsch«, murmelte Grunthor, während Rial und Achmed lächelnd die Köpfe senkten.
»… so bin ich doch in der Tat dein Patenkind und die Herrin von Navarne, die Zweite in der Thronfolge dieses Herzogtums, wie ich wohl hinzufügen darf. Ich bin neun Jahre alt und werde am ersten Tag des Frühlings zehn, und ich bin mehr als viermal so lang wie dein Unterarm. Außerdem kann ich rennen, reiten, Bogen schießen und mit dem Dolch umgehen. Ich kenne mich sehr gut mit Pferden aus und kann sie striegeln und aufzäumen. Ich bekomme viel bessere Bewertungen von meinen Lehrern, als mein Bruder sie je erhalten hat, und ich bin es leid, im Kinderzimmer bleiben zu müssen, wenn wichtige Dinge besprochen werden. Ich könnte sehr wertvoll für das Konzil sein, zumindest als Botin oder vielleicht auch als Spionin.« Die dunklen Augen des Mädchens funkelten in einer Mischung aus Erregung und Groll. »Hiermit möchte ich deutlich, aber höflich mein Missfallen darüber zum Ausdruck bringen, immer ausgeschlossen zu sein. Wenn Rhapsody so unterdrückt aufgezogen worden wäre, hätte sie niemals die Herrscherin und Kriegerin werden können, die sie nun ist. Ich erachte das als schreckliche Verschwendung von wertvollem cymrischem Guthaben.«
»Ich werde gleich dein wertvolles cymrisches Guthaben verschwenden, junge Dame!«, rief der Marschall und schlug spielerisch nach ihrem Hintern. Melisande wich ihm aus, wie sie es immer an dieser Stelle des Spiels tat, und eilte rasch hinter Gerald Owen aus der verborgenen Kammer.
»Na, die hat aber ’n Mundwerk«, meinte Grunthor anerkennend. »Wenn ihr für die keine richtige Aufgabe findet, gebt sie mir. Ich weiß schon, wozu ich sie gebrauchen kann.«
»Führe mich nicht in Versuchung«, murmelte Gwydion Navarne. »Ich kann dafür sorgen, dass sie mit all ihren Sachen in weniger als fünfzehn Minuten auf der Treppe der Festung steht.«
»Das klingt eher wie ein genervter Bruder als wie ein frisch eingesetzter Herzog«, bemerkte Anborn knapp. »Denk an meine Worte, junger Navarne: Eines Tages wirst du stolz darauf sein, dass dieses Mädchen mit dir verwandt ist.«
»Vielleicht«, gab Gwydion reumütig zu. »Und wahrscheinlich dauert es eher fünfzehn Tage, bis sie gepackt hat.«
»Dass du zusammen mit Achmed ein Geheimnis vor mir hast, Rhapsody, verwirrt mich sehr, wie ich gestehen muss«, sagte Ashe, als sie hinter dem Wandbehang hervorkamen und die große Halle betraten. »Ich war der Meinung, dass wir voreinander nichts verheimlichen. Ich habe dir all meine Geheimnisse verraten, auch wenn manche davon scheußlich sind.«
Rhapsody drückte seine Hand. »Ich hätte dir schon lange alles gesagt, was ich darüber weiß, Sam, aber das stand mir nicht zu. Vor einiger Zeit, als du und ich in der Wüste von Yarim waren und die Bolg unter der Quelle der Entudenin nach Wasser gegraben haben, hat Achmed mir ein uraltes dünnes Dokument aus Pergament gezeigt, das aus der Zeit vor der cymrischen Ära datiert und vielleicht sogar von der untergegangenen Insel stammt. Es war die Risszeichnung einer Maschine, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. Sie benutzt das Farbspektrum des Lichts und das Lautspektrum der Musik, um verschiedene Arten von Macht zu erschaffen – die Macht des Heilens, die Macht des Wahrsagens und Verbergens und viele andere, die ich noch nicht herausgefunden habe. Er hat mir diese Informationen nicht überlassen, obwohl ich sie als eine der elementarsten und ursprünglichsten Überlieferungen der Welt erkannte, und ich habe ihn gewarnt, vorsichtig damit umzugehen, denn sogar die Meisterbenenner sind nur in wenige dieser Geheimnisse eingeweiht.
Als er zu Gwydions Amtseinsetzung kam, hatte er das Dokument wieder dabei. Er hat mich gebeten, es zu übersetzen, und ich hatte es bei mir, als du mich zu Elynsynos’ Nest gebracht hast. Damals habe ich verstanden, was es bedeutet, um welche Überlieferungen es sich handelt und worin die Gefahren ihrer Anwendung liegen. Es hätte übrigens beinahe unsere Freundschaft beendet. Nach Meridions Geburt habe ich Achmed gesagt, dass ich ihn nie wieder sehen will, weil er trotz meiner Warnungen unbedingt die Übersetzung haben wollte. Aber nachdem ich lange darüber nachgedacht und mit ihm ein offenes Gespräch unter vier Augen darüber hatte, als wir im Schutz von Llaurons Körper gefangen waren, habe ich begriffen, was er wirklich will. Er hatte bereits früher im alten Land einige Erfahrungen mit dieser Maschine gesammelt und ist der Meinung, dass wir gegen Kräfte kämpfen werden, die in der Geschichte einzigartig sind; und deshalb sollten wir eine Waffe mit einzigartiger Herkunft und Macht besitzen.«
»Darin steckt eine gewisse Weisheit«, gab Ashe zu.
»Während Gwylliams und Anwyns Instrument das Schlafende Kind aufzuwecken drohte, also jenen Drachen, der im Mittelpunkt der Erde schläft, scheint Achmed eine Möglichkeit entdeckt zu haben, es mit Kraft zu speisen, die nicht aus dem Feuer oder der Erde stammt, wie es bei Gwylliam und Anwyn der Fall war. Achmed benutzt dazu das Licht der Sonne und der Sterne, was den Gebrauch sehr viel sicherer macht, auch wenn sie immer noch wohlüberlegt erfolgen muss. Die Maschine sollte auf diese Weise sogar noch mächtiger sein, denn die Macht eines jeden Elements bemisst sich nach der Reihenfolge, in der es erschaffen wurde. Daher übertrifft der Äther alle anderen, gefolgt von Feuer, Wasser, Wind und Erde. Wenn wir den Äther zum Betreiben unseres Lichtfängers benutzen, sollte er einerseits äußerst wirksam und andererseits sehr sicher sein. Wenn wir ihn einsetzen können, um das Erdenkind zu bewachen, die Berge zu beschützen sowie den Feind zu finden und zu überwinden, dann wird es das Risiko und den Schaden wert sein, den unsere Freundschaft deswegen genommen hat.«
»Ich bezweifle nicht deine Weisheit, Aria«, sagte Ashe und nahm ihre Hand zwischen die seinen. »Es ist vielleicht kleinlich, besonders wenn man bedenkt, was wir einander bedeuten, aber mich ärgert der Gedanke, dass du und Achmed ein Geheimnis miteinander teilt, welches uns beide trennt. Vermutlich ist das auch nur ein kindischer Widerwille, der dem besitzergreifenden Drachenblut zuzurechnen ist.«
Rhapsody küsste seine Hand. »Jetzt gibt es zwischen uns keine Geheimnisse mehr«, sagte sie, »aber es gibt einige, von denen niemand sonst weiß. Da ist eines, das nur wir beide miteinander teilen.«