»Die Menschen müssen jetzt für sich selbst sorgen«, sagte Mikanic. »Wir können nichts mehr für sie tun. Solange Elynsynos hier war, beherrschte sie diese Lande vollkommener, als es uns anderen seit Anbeginn der Welt in den eigenen Gebieten je möglich gewesen ist. Ihre Narrheit, ihre Verbindung mit einem Mann aus der Rasse der Erstgeborenen, führte zu Niedergang und Krieg. Es wäre dumm von uns, wenn wir die Menschen jetzt noch zu retten versuchten. Wir müssen tun, was wir können, um diese zerbrechliche Welt zusammenzuhalten und vor den Bösen aus der Tiefen Kammer der Unterwelt sowie vor jenen zu schützen, die über die Erde wandeln. Was immer der Rasse der Menschen zustoßen sollte, ist ohne Belang. Und aus diesem Grund sollten wir unseren Bruder segnen und von diesem Ort weggehen, zurück in unsere eigenen Länder, damit sie nicht verwundbar sind.«
In schweigender Zustimmung wandten sich die Drachen erneut dem steinernen Leichnam zu.
»Was hat er getan, als er an sein Ende gekommen ist?«, fragte Chao unruhig. »Warum hat er sich zusammengekauert, obwohl er den Kopf erhoben und die Augen geöffnet hat?«
Das dunkle Immergrün rauschte laut auf, als der Wind durch die Zweige fuhr.
»Er muss etwas beschützt haben«, sagte Talasynos. »Was immer es war, es war für ihn nicht nur wichtiger als sein Leben, sondern auch wichtiger als sein Erbe und all seine Überlieferungen.«
»Wir können ihm wenigstens etwas davon zurückgeben, indem wir ihn segnen«, sagte Valecynos. Sie schloss ihre weiß glühenden Augen und sang ohne Klang, ohne Worte, und einen Augenblick später fielen die anderen ein.
Llaurons Steinhülle war plötzlich von Flammen umgeben, von klarem, elementarem Feuer ohne Spuren von Asche oder Schlacke, wie es im Herzen der Erde brannte. Die Striemen von Asche, die ihn einst durchzogen hatten, wurden nun von den Flammen gereinigt. Dann wechselte der Gesang und rief kalten Regen aus dem klaren Morgenhimmel herbei. Sobald der Körper gesäubert war, wandelte sich das Lied erneut und rief den Wind, der die Regentropfen trocknete, so wie eine Mutter die Tränen ihres Kindes trocknet. Als der Körper schließlich von diesen drei Elementen gesegnet worden war, öffnete sich die Erde sanft unter ihm und empfing Llauron in einem tiefen Grab inmitten des Waldes, den er im Leben so geliebt hatte.
Als alle Elemente der natürlichen Welt den Ort gesalbt hatten, an dem Llauron an sein Ende gekommen war, verstummten die Drachen. Sie blieben in dem Hain, standen Wache, bis die Nacht kam, und Äther legte sich in Gestalt von Sternenlicht auf das Grab. Der Äther, das älteste der fünf Elemente, wurde als die Magie erachtet, die ihre Rasse mit dem übrigen Universum verband.
»Mag es dir Frieden bringen und so viel Unsterblichkeit, wie du erlangen kannst, Llauron«, stimmte Valecynos an. Und mag das, wofür du dich geopfert hast, den Preis wert gewesen sein, den du dafür gezahlt hast, dachte sie.
Als der Wind wieder auffrischte, lösten die gewaltigen schlangenartigen Körper ihr Band zu dem Fleisch der Erde. Sie wurden durchscheinend, glommen ätherisch, stiegen in den Wind auf wie Sommerfäden oder verbargen sich wieder in der Erde und kehrten in ihre eigenen Länder zurück.
Dabei zitterten sie vor Furcht.
3
Zumindest ein Mitglied der Drachenrasse hatte nicht an der Segnung von Llaurons Leichnam teilgenommen. Allerdings bedeutete die Abwesenheit der Drachin nicht, dass sie nicht das Ende beobachtet hätte.
Sie war sogar der Grund dafür gewesen.
Dass Llauron ihr Sohn gewesen war, stellte für sie nur eine bruchstückhafte Erinnerung dar. Sie hatte fast drei Jahre lang in einem Grab aus Asche und Ruß gelegen, war von ätherischem Feuer aus dem Himmel versengt worden, und daher war ihr Gedächtnis nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Sie besaß nur noch wenige verbliebene Erinnerungsfetzen, und keiner bezog sich auf eines ihrer Kinder. Schon lange hatte sie die Grundregel des Drachentums vergessen, dass kein Drache je einen anderen töten oder auch nur den Plan dazu fassen durfte, denn bereits der Verlust eines einzigen riss ein schreckliches Loch in den Schutzschild, der die Welt aufrecht erhielt.
Selbst wenn sie dies gewusst hätte, wäre es ihr gleichgültig gewesen.
Sie wusste kaum mehr, als dass sie vor kurzem in der Erde erwacht war, in Schmerz und Verwirrung. Ihre Qualen konnte sie ein wenig lindern, indem sie ihrer zerstörerischen Wut freien Lauf ließ.
Während sie in ihrem leeren Palast aus Eis und gefrorenem Stein lag, wusste sie auch, dass sie allmählich starb.
Anwyn hatte erst vor sehr kurzer Zeit ihre neue Gestalt angenommen; nur wenige ihrer tausendfünfhundert Jahre hatte sie als Drachin gelebt. Mehrere Male während ihres Daseins hatte sie sich verwandelt, immer um Böses zu wirken, und war beim letzten Mal von einem Blitz aus Sternenfeuer getroffen worden, der ihre Flügel verkrüppelt und sie zu einem todesähnlichen Schlaf in ihrem schwarzen Kohlengrab verdammt hatte. Sie hatte keine Ahnung, warum sie erwacht war. Sie vermochte nur Bruchstücke ihrer Erinnerung heraufzubeschwören; es waren Bilder, die sie oft nicht verstand. Doch der Hass, den sie empfand, fühlte sich ungeheuer befriedigend an, wenn sie ihn auf Gedanken der Vernichtung richtete.
Da war eine klare Erinnerung: der beständige Hass auf eine Frau mit goldenem Haar – auf die Frau, die Anwyn in ihr Gefängnis gestoßen hatte.
All das war in die Kavernen ihres Gedächtnisses zurückgewichen, während sie auf dem Steinboden ihrer Festung in den frostigen Bergen nach Atem rang. In ihrer Brusthöhle steckte ein Stück Metall, mit rauen Rändern, rund, dünn und rasiermesserscharf. Es war kalt geschmiedet und aus einem Metall gemacht, das sich stark ausdehnte, wenn es in Berührung mit Hitze kam, aber natürlich wusste Anwyn auch das nicht. Sie wusste nur, dass es an ihren Muskeln und ihrer Brust gezerrt und sich unter der Hitze ihres Körpers beständig ausgedehnt hatte, während sie an diesen Ort des ewigen Winters zurückgekehrt war. Immer näher hatte es sich an ihr dreikammeriges Herz herangearbeitet.
Nun lag sie so still wie möglich, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und keine Panik zu bekommen und kämpfte sich durch die Ruinen ihres zerschmetterten Hirns auf der Suche nach irgendeiner Erinnerung, die ihr hilfreich sein konnte.
Heilung, dachte sie verzweifelt, während sie ganz flach atmete und zusah, wie sich ihr blutgefleckter Speichel auf dem Boden sammelte. Ich muss Heilung finden.
Aber in ihrem Leben hatte sich Anwyn wenig um die Heilkünste gekümmert und wusste daher nicht, wo sie diese Heilung finden sollte.
Aus der Richtung eines Fensters, das auf die Berge hinausblickte, hörte sie ein summendes Geräusch, das lauter war als der allgegenwärtige Nordwind, der um ihren Palast heulte. Einen Moment später begriff sie, dass sie dieses Geräusch nicht mit ihren Ohren, sondern mit ihrem Blut hörte. Langsam wandte sie den Kopf, zuckte vor Schmerzen zusammen und versuchte all ihre Aufmerksamkeit auf das zu richten, was nach ihr rief.
Auf einem Holzaltar mit reichem Schnitzwerk lag ein mattes Fernglas.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.
Das Fernglas war während des größten Teils ihres Lebens eines ihrer Werkzeuge gewesen. Einst hatte es ihrem Vater gehört, einem Seemann, doch anstatt damit weit entfernte Dinge auf dem Meer zu erspähen, hatte Anwyn es in ihrer Eigenschaft als Seherin dazu verwendet, in die Vergangenheit zu blicken. Sie erinnerte sich an nichts davon, hatte aber das Gefühl, dass ihr das Fernglas zeigen würde, was sie tun musste, um sich selbst zu retten, wenn sie nur an es herankam. So wie sie sich abgemüht hatte, an diesen Ort zu gelangen, nahm sie nun ihre letzte Kraft zusammen und bewegte ihren gewaltigen, schwer verwundeten Körper auf den Altar zu.