Die anderen Erinnerungen, welche diese schönen verdrängen wollten, drückte sie beiseite und zuckte unter den Schmerzen zusammen, die sie ähnlich wie die Metallsplitter verursachten, die noch in ihr steckten. Nein, nein, dachte sie benommen, verbannte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf und kehrte in glücklichere Zeiten zurück. Sie sah Bilder von Festen am Meeresstrand, von fröhlichen Tänzen und einer Zeremonie am Fuß des Großen Weißen Baumes, in der sie über alle anderen erhoben und von dem lebendigen Schatz, an dessen Namen sie sich noch immer nicht erinnern konnte, Herrin genannt worden war. Es waren die Cymrer gewesen, die Flüchtlinge der Ersten Flotte von der toten Insel Serendair.
Ich will weiterschlafen, sann sie, reckte sich erneut und schwelgte in der Erinnerung an eine Zeit, in der sie nicht verabscheut, sondern hoch geachtet, gefeiert und begehrt worden war, statt ausgestoßen und geächtet.
Sie öffnete den Mund, und wie schon zuvor tröpfelte das flüssige Gold des süßen und heiligenden Sonnenscheins hinein. Das Feuer in ihr, das von den Feuersteinen herrührte, die alle Mitglieder ihrer Art im Magen hatten, kühlte ab und verschaffte ihr eine traumlose Ruhe.
Zumindest für den Augenblick.
Die Stille wurde vom plötzlichen Schrei des Kindes und kurz darauf vom hallenden Schlag eines Lederhandschuhs gegen Haut unterbrochen.
Achmed zügelte sein Pferd. Die empfindlichen Nervenenden in seiner Haut brannten unter diesem Geräusch.
»Was ist denn jetzt los, Rhapsody?«, wollte er wissen und warf einen finsteren Blick über seine Schulter, während die cymrische Herrin ihren Nebelmantel ausbreitete. Auf ihrem windzerzausten Gesicht lag ein Ausdruck der Bestürzung. »Du hast ihn doch gerade eben erst gefüttert. Dieser anspruchsvolle Balg wird immer mehr zum Ärgernis. Noch ein einziger grundloser Schrei, und ich werde ihn auf einen Pferdedorn spießen und den Aasfressern überlassen.«
»Woher willst du wissen, dass es grundlos war?«, fragte Rhapsody und untersuchte das Kind.
Achmed schaute hinüber zu Grunthor, der sich den Nacken rieb. »Was ist los?«
»Mich hat was gestochen«, murmelte der Riese.
»Vielleicht eine Mücke«, meinte Achmed. »Sie können ziemlich hinterhältig sein, obwohl man eigentlich glauben sollte, dass deine Bengard-Haut dich ziemlich unverwundbar macht.«
»Sollte man eigentlich glauben«, stimmte der Riese ihm zu und tastete noch immer seinen Hals ab, »aber das war kein kleiner Stich. War’n richtiger Biss. Autsch. Verdammt, autsch.«
»Genau wie bei Meridion«, sagte Rhapsody. Sie zog den Stachel aus einem großen, roten Striemen am Bein des Kindes, fuhr mit dem Finger über die Wunde und wärmte sie sanft mit ihrer Feuergabe, um die Schmerzen zu lindern.
In diesem Augenblick bemerkte Achmed das Summen. Er gab Grunthor ein Zeichen und hielt sein Pferd an. Damit tat er das, was seine gereizte Haut befahl. Er legte die Zügel über Rhapsodys Arm und stieg ab. Das Summen leitete ihn über den Sand, bis er die Quelle gefunden hatte.
Einige kleine Hügel erhoben sich in der ansonsten undurchbrochenen Sandschicht, über denen ein paar Bienen schwebten, während sich andere in den Boden neben den Hügeln bohrten.
»Ich habe deinen Angreifer gefunden, Grunthor«, sagte er, hockte sich nieder und untersuchte die Hügel, die wie große Ameisenhaufen aussahen. »Soll ich dich rächen? Wenn du willst, pinkle ich auf sie. Oder sollen wir weiterziehen?«
»Was machen Bienen hier draußen in der Wüste?«, wunderte sich der riesige Bolg laut. »Gibt doch nichts für sie zu fressen hier, keine Blumen, keine anderen Gewächse. Kein richtiges Wasser. Komisch.«
Achmed stieg wieder auf und ergriff die Zügel. Er schnalzte dem Pferd zu, und sie verfielen erneut in einen sanften Galopp. Achtsam ritten sie über die steigenden und fallenden Dünen nach Osten, während die fernen Berge näher zu kommen schienen. Ihr Rot und Purpur glimmerte am Horizont wie ein Versprechen von Schutz, den sie jedoch nicht vor der kommenden Nacht erreichen würden. Allmählich verblasste das Licht bereits, während die rote Sonne am Firmament sank. Der Wind frischte auf und trieb den Sand in großen, wirbelnden Staubsäulen über die rissige Erde.
Sie waren nicht sehr weit gekommen, als Achmed erneut sein Pferd zügelte. Diesmal griff er rasch nach Rhapsody, damit sie nicht nach vorn kippte. Grunthor hielt ein paar Schritte vor ihnen an und starrte dabei nach Osten.
»Zum Henker«, murmelte der Bolg-Kommandant. »Was is’ denn das da?«
»Gute Götter«, flüsterte Rhapsody und zog den Nebelmantel enger zusammen, um das Kind zu beruhigen.
Achmed sagte nichts, starrte aber mit seinen verschiedenfarbigen Augen auf den Anblick vor ihnen.
Aus der scheinbar endlosen Wüste erhob sich ein zerfallener Turm, ein schräg stehendes Minarett. Es schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein und steckte im roten Sand, in dem sie seit Tagen keine Vegetation und keinerlei andere Anzeichen für Leben entdeckt hatten.
Um den Turm standen weitere, ihm ähnliche Ruinen, Überreste von Kuppeln und Mauern; sie stachen hervor, als ob sie wie Unkraut aus der Erde gezogen und dann weggeworfen worden wären. Die Ruinen waren von gewaltiger Größe, als wären die ursprünglichen Bewohner dieser Stadt Riesen gewesen, oder es war nur die Stadt selbst, die so gewaltig gewesen war. Die Sonne brannte auf den Schutt herab, der in einem unheimlichen, schimmernden Glanz erglühte.
»Sind wir nicht schon vor Jahren hier vorbeigekommen, als wir mit den Sklavenkindern aus der Rabengilde von Yarim nach Ylorc zurückgekehrt sind?«, fragte Rhapsody. »Ich erinnere mich nicht, damals diese Ruinen gesehen zu haben.«
»Sie waren nicht hier«, stimmte Achmed ihr zu. Er starrte weiterhin auf die Überreste, die einst starke Mauern gewesen, nun aber kaum mehr als im Sand verstreute Steinquader waren. Irgendwo in der Nähe wurde das Summen lauter, das er von den im Boden nistenden Bienen gehört hatte. »Diese Ruinen scheinen aus dem Sand aufgetaucht zu sein. Ich vermute, so etwas geschieht von Zeit zu Zeit, besonders wenn es ein Erdbeben oder eine andere Störung in der Erdkruste gegeben hat. Der Grund hier weist viele Spalten auf – man kann die Risse in der Lehmschicht deutlich erkennen.« Er deutete auf einen großen Spalt, der nördlich von ihnen den sonnengebrannten Boden geteilt hatte und allmählich vom Wind wieder mit Sand gefüllt wurde.
»Kann mich nich’ erinnern, kürzlich Erschütterungen gespürt zu haben«, sagte Grunthor ernsthaft. Er zerrte wieder an seinen Zügeln und stieg ab. Der Sand auf dem roten Lehm spritzte in alle Richtungen davon, als er auf den Boden trat. »Sieht ziemlich frisch aus.« Er kniete nieder und legte die Hand auf den Boden. »Hier stimmt was nich’. Ist alles durcheinander geraten, wie bei einem Unglück. Als ob der Ort geschlafen hätte oder sogar tot gewesen wäre, schon bevor wir die alte Welt verlassen haben, und plötzlich wieder aufgewacht wäre.«