Aber irgendwo hier unten schwingt ein Lied von gewaltiger Macht, das von etwas ausgeht, was nur der All-Gott kennt. Es ist eine angenehme Melodie, tief und langsam, aber schneller als der Herzschlag der Erde, den wir gehört haben, als wir sie durchquerten, und dabei regelmäßig wie die Gezeiten des Meeres – was hier draußen in der Wüste sehr seltsam ist. Die Macht schwingt im Boden. Kannst du sie spüren?«
Achmed hob seinen Schleier, damit sein Hautgewebe dem Wind ausgesetzt war, und zog den Handschuh von seiner linken Hand. Er hockte sich nieder und hielt die Hand über den Spalt.
»Ich kann es«, sagte er nach einem Augenblick.
»Dann sind das hier vielleicht die Ruinen dieses Ortes«, meinte Rhapsody. »Das ist bemerkenswert und möglicherweise sehr nützlich. Ich glaube, Meridion braucht einen Windelwechsel.«
Der Bolg-König zuckte zusammen, als. der Wind wieder zunahm und ihm in die Augen stach. Grunthor lief zu ihnen zurück, nachdem er die Pferde und Vorräte sicher in den Ruinen verstaut hatte.
»Netter Ort, und so windgeschützt«, sagte er fröhlich. »Na los, Herrin, ich hab dir und dem Kleinen ein Plätzchen vorbereitet. Da solltet ihr vor dem Wind sicher sein, zumindest im Wesentlichen.«
Der Bolg-König deutete auf den Boden.
»Grunthor, kannst du mir sagen, was hier unten liegt? Ist da nur Sand und Lehm, so weit du spüren kannst, oder gibt es noch andere Schichten? Liegt dort unten vielleicht eine Stadt?«
Der Sergeant-Major ging zum Rand des Spaltes, ließ sich dort nieder und untersuchte den Boden. »Vielleicht die Ruinen von ’ner Stadt«, erwiderte er. »Kann ich nich genau sagen – da ist was ganz Mächtiges zwischen, das ziemlichen Lärm macht und alles übertönt, was die Erde sagt. Da unten scheint ’ne Menge Schutt zu sein, aber das ist alles, was ich sagen kann. Wir könnten natürlich nachsehen gehen. Da ist ’n großer, breiter Tunnel direkt unter diesem Spalt. Wir könnten da runtergehn. Das haben wir schließlich schon mal gemacht.«
Rhapsody erschauerte. »Bitte erinnere mich nicht daran. Dann werden die Albträume nur noch schlimmer. Wir sollten bei den Pferden zwischen den Ruinen Unterschlupf suchen.«
»Ich hol ’ne Windel und die restlichen Vorräte«, sagte Grunthor und lief zurück zu den Ruinen.
»Willst du nicht wissen, was unter dem Sand steckt?«, fragte Achmed, während sie warteten.
»Nein. Ich will nach Ylorc gehen, aus dem Wind herauskommen und mit der Arbeit an deinem verdammten Lichtfänger beginnen. Ich brauche keine Erinnerungen an unsere Reise entlang der Axis Mundi, vielen Dank.
Ich bin eine Lirin. Wir gehören nicht unter die Erde, und das weißt du sehr genau.«
»Also bitte, du hast doch gesagt, du freust dich auf deine Rückkehr nach Elysian, und das liegt auch unter der Erde«, meinte Achmed gereizt. »Wo ist da der Unterschied? Wie kann eine Benennerin sich die Möglichkeit entgehen lassen, eine der größten Entdeckungen in der bekannten Welt zu machen? Wenn das hier wirklich Kurimah Milani ist, willst du es dann jemand anderem überlassen?«
»Jawoll«, meinte Grunthor, während er ihr Gepäck vor ihr fallen ließ. »Ich frag mich, was wohl Talquist mit diesem Ort anstellen würde.«
»Ich will nicht das Kind in Gefahr bringen, nur weil …«
»Es kann nicht gefährlicher sein, als gut sichtbar in der Wüste herumzulaufen, vor allem, da bald die Nacht hereinbricht«, sagte Achmed.
»Es könnte sogar viel ungefährlicher sein«, sagte Grunthor ernst. »Sieh mal hinter dich.«
Rhapsody und Achmed drehten sich gleichzeitig um. Der sandige Wind schlug ihnen ins Gesicht. Von Westen näherte sich eine hohe Wand aus Staub und trieb die abgestorbenen Sträucher vor sich her, die in der weiten roten Lehmwüste vertrocknet waren; seine Kraft nahm mit jeder Sekunde zu.
Grunthor sprang in den Spalt und fegte den Sand von der Stelle weg, wo er den Beginn eines Tunnel vermutet hatte.
»Beeilt euch«, sagte er. »Kann den verdammten Sand nicht lange zurückhalten. Ich hätte lieber guten alten bolgischen Basalt.«
Achmed kletterte in die Spalte, kauerte sich hinein und kaum einen Augenblick später wieder daraus hervor.
»Es ist in Ordnung, Rhapsody. Die Decke ist hoch, und es scheint so etwas wie eine Kammer oder Höhle zu sein. Wir können darin bleiben, bis der Sandsturm abgezogen ist, und uns dann wieder auf den Weg machen.«
Die cymrische Herrin seufzte auf und kletterte hinter ihm in die Erde, gefolgt von Grunthor. Sie betraten einen Ort gewaltiger, endloser Dunkelheit.
Als der Sandsturm herannahte, folgte ihnen leise ein Schatten in die Tiefe.
32
»Grunthor, kannst du mich in der Dunkelheit sehen?«
»Ja, allerdings, Herrin.«
»Kannst du mir dann vielleicht mein Bündel und ein Licht geben?«
»Na klar.«
Ein kaltes blaues Licht erschien und warf einen schimmernden Glanz auf den Mund des Tunnels. Die drei Gefährten sahen sich um.
Sie befanden sich in einem Korridor mit glatten Wänden, der aus uraltem Lehm geformt war. In die halbrunden Wände waren lange, tiefe Furchen eingegraben. Das Licht der Kugel wurde von den Wänden zurückgeworfen und glitzerte in der Finsternis in demselben unheimlichen Licht wie die zerfallenen Mauern und Türme an der Oberfläche. Eine kühle Brise blies aus der Düsternis am Ende des Korridors herbei.
»Scheint so etwas wie ein Kanal zu sein«, sagte Achmed. Grunthor nickte zustimmend. »Vielleicht der Teil eines Abwassersystems.«
Rhapsody zog ihren Mantel aus und wickelte das Kind hinein.
»Wunderbar«, murmelte sie, während sie ihr Gepäck durchstöberte. »Warum betreten wir eine Stadt eigentlich immer durch die Kanäle? Wenn ich mich recht erinnere, sind wir so auch ins Bolgland gekommen.«
»Ich finde es ziemlich angemessen, wenn man bedenkt, was du in letzter Zeit so getrieben hast«, meinte Achmed giftig, während das Kind leise gurrte. »Gute Götter, Rhapsody, bist du sicher, dass du ihn nicht mit Schwefel fütterst?«
»Ziemlich sicher«, erwiderte sie und sah in der Dunkelheit lächelnd auf das Kind herab. Im Glimmern der kalten Lichtkugel waren sein Haar und seine Haut beinahe durchscheinend; die winzigen senkrechten Pupillen in seinen klaren Augen glitzerten. Sie küsste ihn auf den kleinen Bauch und wickelte ihn rasch, während der Wind an ihnen vorbeiheulte und im Tunneleingang sowie um diesen herum kreischte.
»Gute Sache, dass du deine Angst vor dem Untergrund rechtzeitig überwunden hast«, sagte Grunthor und schaute nach draußen. »Das ist ’n starker Sturm, so stark wie der letzte. Hoffe, die Pferde werden nicht unter dem Sand begraben. Bin froh, dass ich die Vorräte hergebracht hab.«
Rhapsody trat über die Furchen im Tunnelboden, wiegte dabei Meridion im Mantel und setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Achmed und Grunthor wandten sich ab, als sie das Kind stillte, und beobachteten den gewaltigen Sandsturm vor dem Tunnel. Sie lauschten dem harten Kreischen des Windes und den leisen Geräuschen, die das Kind machte, bis beides allmählich verstummte.
Als der Sturm anscheinend vorübergezogen war, wuchtete sich Grunthor aus dem Tunnel und schaute sich um. »Die Spalte hat sich ein bisschen gefüllt«, berichtete er, als er zurückkehrte. »Muss sie vielleicht freilegen, wenn wir gehen.«
Der Bolg-König nickte, drehte sich um und ging an Rhapsody vorbei den Kanal entlang in die immer noch stürmische Finsternis. Er gab den anderen ein Zeichen.
»Da ist eine große Öffnung in der Decke am Tunnelende, wo der Wind herkommt. Bringt das Licht mit, damit wir uns ein wenig umsehen können, bevor wir das Nachtlager aufschlagen.«
Grunthor reichte Rhapsody seine gewaltige Hand und half ihr auf die Beine, dann nahm er die Lichtkugel, und sie folgten dem Bolg-König den Kanal entlang bis zum Ende des Tunnels, wo eine dunkle Öffnung gähnte.