Achmed kam kurz darauf zu sich. In seinem Kopf pochte es. Benommen starrte er auf zwei Nadelspitzen aus Licht unter einer dunklen Kapuze. Die Gestalt, die ihn gepackt hielt, sah ihn kurz an, ließ ihn dann zu Boden fallen und nahm ihre Kapuze ab.
In dem ungewissen Licht sah Achmed Gesichtszüge, die er sofort wieder erkannte, und doch hatte er sie in dieser Form noch nie gesehen. Der Mann, der da vor ihm stand, war dünn wie ein Wispern, größer als Achmed, hatte breite Schultern und sehnige Hände, und seine Haut war überall von bloßliegenden Adern durchzogen, was ihr eine seltsame Zweifarbigkeit verlieh. Sein Kopf war glatt und kahl und verjüngte sich von der Stirn zum kantigen Kiefer. Die Augen waren schwarz wie Tinte, hatten keine sichtbare Iris und wurden von silbernen Pupillen geteilt. In sie zu schauen, war wie innerhalb eines dunklen Raumes in einen Spiegel zu blicken.
Ein Dhrakier. Ein Vollblut.
Aber einer, der sich sehr von denen unterschied, die Achmed bisher gesehen hatte.
Steh auf und tritt ein, befahl der Mann. Diesmal verursachte das Kommando keine Schmerzen, sondern trommelte kurz und knapp gegen seine Haut. Achmed gehorchte. Langsam erhob er sich und erlaubte seinem Körper, sich zu strecken, bis er ganz aufrecht stand. Er taumelte durch die Öffnung, neben der Grunthor lag, und schüttelte diesen, bis der Riese erzitterte und nach Atem rang. Dann half Achmed ihm, sich aufzusetzen.
»Was, zum …?«
»Psst«, warnte ihn der Bolg-König. Grunthor richtete den Blick auf die Gestalt, die vor ihnen stand, und wirbelte dann zu Rhapsody herum, die noch immer gegen die Kavernenwand gelehnt stand. Sie keuchte, hatte ihr Kind fest in den Nebelumhang gewickelt und drückte es an sich. »Kannst du stehen?«
»Natürlich kann ich stehen«, murmelte der Sergeant-Major. »Ist nur ’ne Frage der Zeit, bis ich so weit bin.«
»Steh auf und tritt herein«, sagte der Dhrakier in seiner hörbaren, rauen Stimme. Es war dieselbe sandige Stimme, mit der auch Achmed sprach. »Jeden Moment, den ihr zögert, könnte die Bestie erwachen.«
»Die Bestie?«, flüsterte Rhapsody, während die drei Männer auf sie zukamen.
Der dünne, kahlköpfige Mann nahm die Lichtkugel auf, gab sie ihr und deutete ungeduldig auf das Innere der Höhle. Achmed nickte. Rhapsody drehte sich um und geleitete die drei durch eine nach unten führende Rinne, die einmal einer der Kanäle des Bewässerungssystems gewesen war. Sorgfältig achtete sie darauf, dass sie den Schimmelflecken und den zerbrochenen Teilen des Bienenstocks, die an den Wänden bis auf den Boden der Kaverne hingen, nicht zu nahe kam.
Sie gingen unter langen Fäden tropfenden Honigs dahin und versuchten jeden Kontakt mit ihnen zu vermeiden. Die zähen Fäden dehnten sich aus, wenn abermals ein schwerer Tropfen gefallen war, zogen sich wieder zusammen und vergossen den nächsten goldenen Schatz über dem, was einmal ein Wasserlauf gewesen war. Die Luft um sie herum war durch unzählige Schwingen und den schweren Klang des Brummens in Aufruhr gebracht, der alle anderen Geräusche übertönte.
Schließlich kamen sie zu einem großen Bassin, das einmal ein gewaltiges Bad mit Sitzen aus gebrannten Ziegeln gewesen war, durch welches langsam ein plätscherndes Rinnsal um Hindernisse aus zerborstenen Statuen und zerfallenen Mauern herumfloss. Der Mann in der Robe blieb neben dem Rinnsal stehen und deutete darauf.
»Trinkt«, sagte er zu Achmed und Grunthor. »Es wird euch heilen.«
»Mir geht’s gut, danke«, murmelte der riesige Bolg. »Ich fühl mich bloß ’n bisschen schwindlig.«
Der Dhrakier schnaubte und schaute den Bolg-König an. »Und du?«
Achmed sagte nichts.
Der Dhrakier beobachtete ihn noch einen Augenblick, dann hockte er sich bei dem Rinnsal nieder, schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser und trank es. »Wie du willst«, sagte er. Er drehte sich um und ging hinüber zu einer geschützten Nische mit blauen Marmorwänden, in der sich vermutlich die Badenden entkleidet hatten, bevor sie in die Heilbäder gestiegen waren. Der Bolg folgte ihm, doch Rhapsody blieb neben dem Gewässer und lauschte ihm, während es über den Boden floss. Es war ein musikalischer Laut, ähnlich dem Lied, das sie gehört hatte, als sie noch an der Erdoberfläche gewesen waren. Sie kniete nieder, wobei sie noch immer ihren Nebelumhang festhielt, setzte ihr Gepäck ab und suchte darin herum. Schließlich holte sie eine leere Wasserflasche hervor, die sie rasch mit einer Hand füllte, verschloss und wieder in ihre Tasche steckte. Sie ging zu den Männern in der Nische, die einer der wenigen Orte in dem riesigen Gewölbe war, welchen die Bienen noch nicht besetzt hatten, vermutlich weil die blauen Marmorwände zu glatt für sie waren. In der Abgeschiedenheit dieses Ortes schienen alle Geräusche wie das Pfeifen des Windes oder das Summen der Bienen ausgeblendet zu sein.
Achmed wandte sich an den Dhrakier. »Warum bist du hier? Was willst du?«
Der alte Mann sah ihn ohne Groll an, als schätze er seinen Wert für den Markt ab. Schließlich sagte er mit einer Stimme, die so tonlos wie der Wind in der Kaverne war:
»Ich habe eine Aufgabe für dich.«
Der Bolg-König lachte leise. »Du bist hergekommen, um mir eine Aufgabe zu erteilen? Wieso glaubst du, dass das möglich ist? Bist du wirklich der Ansicht, dass du mich zur Mitarbeit bewegen kannst, indem du mich zu erwürgen versuchst?«
Die dunklen Augen verengten sich.
»Du bist von unserem Blut und fühlst trotzdem nicht den Ruf der Uranfänglichen Jagd?«
Auch Achmed kniff nun die Augen zusammen.
»Ich fühle ihn«, sagte er mürrisch. »Ich habe diesen Ruf mehr als einmal beantwortet und habe mehr als einen scheußlichen F’dor-Geist zurück in die tiefe Kammer der Unterwelt oder in den Äther geschickt. Aber ich verstehe noch immer nicht, warum du glaubst, du kannst mich und meine Leute angreifen und beinahe erwürgen und dann von mir erwarten, dass ich von dir eine Aufgabe annehme, als wäre ich ein Botenjunge. Ich habe meine eigenen Ansichten darüber, wie ich meine Zeit verbringe, um meine sonstigen Verpflichtungen erst gar nicht zu erwähnen – und keine davon bezieht sich darauf, von jemandem eine Aufgabe anzunehmen, und schon gar nicht von dir.« Seine Stimme war voller Hass, und das letzte Wort hallte laut in der Nische wider.
Der alte Dhrakier sagte nichts, sondern stand nur schweigend da und beobachtete Achmed sorgfältig. Schließlich deutete er auf die Stelle in der Decke, wo die Mauern und der Bienenstock zerstört waren.
»Hinter dieser Wand befindet sich ein Wyrmril, eine Bestie, die vor kurzem hergekommen ist und sich Heilung von einem Ort erhoffte, der nichts als eine Erinnerung ist. Sie schläft jetzt – ihr Feuer ist an einem Übermaß von Honig und süßem Wasser erstickt –, doch jeder Laut, jede Ablenkung könnte sie wecken.«
»O Gottchen«, meinte Grunthor leise. »Anwyn. Hab mich schon gefragt, wohin das alte Biest geflohen ist.«
»Ihr mögt euch dazu in der Lage sehen, es mit ihr aufzunehmen, aber was ist mit Eurem Kind, Herrscherin? Kann es den Drachenatem überleben?« Der Dhrakier schaute hoch zu dem ausgedehnten Bienenstock, der die gesamte Decke der gewaltigen Höhle überzogen hatte. »Doch von den Bienen geht für euch noch größere Gefahr aus, auch wenn es ihr Lärm ist, der euch am Leben erhält, denn die Bewegungen ihrer Flügel verbergen eure Gegenwart vor der Drachin«, bemerkte er fast beiläufig. »Als Kurimah noch eine Heimstatt des Heil-Wesens war, wurden die Vorfahren dieser Bienen als Gefangene gehalten und von einem Gefolgsmann des Erbauers dieser Stadt wegen ihres Honigs gezüchtet, der zu Medizin und sanften Salben verarbeitet wurde. Sie sind die einzigen Wesen, welche die Vernichtung der Stadt überlebt haben.« Sein nachdenklicher Blick richtete sich wieder auf die drei. »Damals mögen sie harmlos gewesen sein, doch jetzt könnten sie uns in Windeseile töten – und wie unsere eigene Art sind sie eines Geistes und können still im ganzen Schwarm miteinander in Verbindung treten, als wären sie ein einziges Wesen. Falls sie ausschwärmen und uns angreifen sollten, würden unsere toten Körper wie in Wein getränkte Feigen anschwellen, bevor sie platzen, und die Bienen würden sich von unseren Leichnamen nähren.«