Er hörte, wie sich die Soldaten näherten. Dumpfes Donnern mischte sich mit dem entsetzten Pochen seines Herzens. Er hielt die Augen geschlossen und versuchte sich nicht zu bewegen, als die Reiter herannahten. Es kam ihm nicht der Gedanke, im Namen des cymrischen Herrschers um Schonung zu bitten, und er fragte sich auch nicht, warum ein Regiment, das einem friedliebenden Herrscher diente, einen Obsthändler angriff, der sich nur um seine eigenen Belange kümmerte.
Er atmete weiterhin flach und sog dabei schneedurchsetzten Staub ein, als die Kohorte ihn endlich erreicht hatte. Veit betete darum, dass das Ende schnell kommen möge.
Zufällig war er beim Winterfest in Navarne vor vier Jahren dabei gewesen und hatte den schrecklichen Überfall sorboldischer Soldaten überlebt, indem er sich mit seiner Frau und seinen Kindern hinter der Festungsmauer versteckt hatte, während das Abschlachten scheinbar stundenlang dauerte. Als es vorbei gewesen war, hatte er sich zu denen gesellt, die den blutenden Opfern, die im rosig gefärbten Schnee lagen, Hilfe leisteten, und viele zitternde und zuckende Todeskämpfe miterlebt. Seit diesem Augenblick betete Veit um ein rasches Ende, wenn seine Zeit gekommen war.
Nun schien es so weit zu sein.
Er biss die Zähne zusammen, als die Pferdehufe ihn mit Kies bewarfen. Er wartete darauf, dass sie anhielten, doch die Soldaten ritten weiter, als hätten sie ihn gar nicht wahrgenommen.
Als der donnernde Lärm schließlich verblasste, fasste Veit wieder Mut und öffnete ein Auge einen Spalt weit. Die Kohorte war schon fast außer Sichtweite, doch er erkannte trotzdem, dass es sich bei den Tieren um graue Bergpferde handelte und nicht um die Braunen und Füchse, die man für gewöhnlich in diesem Teil der Ebene sah. Es waren auch nicht die Rotschimmel, die von den Lirin im Westen bevorzugt wurden. Veits Herz wurde plötzlich so kalt wie sein frierender Körper.
Zum letzten Mal hatte er solche Pferde unter den Soldaten aus Sorbold gesehen, die das Winterfest überfallen hatten.
Seine Glieder wurden taub, und Veits Geist tat es ihnen gleich. Als ihn der Nebel umhüllte, schaute er hoch zu dem Wagen über ihm.
Sie hätten wenigstens die Äpfel mitnehmen können, dachte er, bevor die Finsternis ihn überwältigte. Bis sie jemand gefunden hat, werden sie verschrumpelt und gefroren sein.
Genau wie ich.
5
Gwydion Navarne lief auf dem dicken Teppich vor der großen Halle hin und her und wartete darauf, dass er in den Raum gerufen wurde. Es war sein erstes Konzil, seit er an seinem siebzehnten Geburtstag vor ein paar Monaten zum Herzog ernannt worden war, und das bedrückte ihn, während er unruhig über die dicht gewobenen Fäden des Teppichs eilte, der die Geschichte seiner Familie erzählte. Mit jedem Schritt fuhr er unbewusst die Linie der Tuatha Navarne nach, von ihrem cymrischen Stammvater, einem Mann namens Hague aus der Ersten Generation, der der beste Freund von Gwylliam dem Visionär gewesen war, bis hin zur Nachkommenschaft seines eigenen verstorbenen Vaters Stephen Navarne, der in seiner Jugend der beste Freund von Ashe gewesen war, dem augenblicklichen Herrscher der Cymrer, Gwydions Namensvetter, Pate und Beschützer. Die reichen Farben der geflochtenen Fäden – waldgrün und scharlachrot, tiefblau, königspurpurn und golden – erzählten eine traurige Geschichte, die zu Gwydions Stimmung passte.
Als er im Kreis umherlief, wiederholte er still immer wieder, was er in den Häfen und Vorposten Sorbolds gesehen hatte, der großen Nation voller bedrohlicher Berge und windgepeitschter Wüsten südlich von Roland, und bemühte sich darum, die Tatsachen und Zahlen fest in Erinnerung zu behalten.
Fünfundsiebzig dreimastige Kutter, dachte er und fuhr mit der Liste fort, weil er sich auf die Befragung vorbereiten wollte, die früher oder später kommen würde. Dreiundsechzig dreimastige Schoner, mindestens achtzig schwere Barken, alle im südwestlichen Hafen von Ghant, alle innerhalb eines einzigen Tages eingelaufen.
Alle mit Sklaven an Bord, mit Tausenden von Sklaven, vielleicht der Einwohnerschaft von zehn oder mehr Dörfern, möglicherweise unterwegs zu den Salzminen von Nicosi oder den heißen Stahlwerken von Keltar.
Gwydion hatte sein rasendes Herz nicht mehr beruhigen können, seit er das Löschen der menschlichen Ladung vor ein paar Wochen beobachtet hatte. Mitgefühl und Wut über diesen Anblick hatten sich rasch mit Angst vermischt. Der Anblick der kleinen, schläfrigen Hafenstadt, in der es plötzlich von Soldaten und Hafenarbeitern wimmelte, vor Bergwachen und Leibeigenen, hatte seinen Gefährten davon überzeugt, dass der Krieg, auf den sich Sorbold vorbereitete, größer werden würde als alles, was die bekannte Welt je gesehen hatte.
Da sein Gefährte Anborn ap Gwylliam gewesen war, der Marschall des ersten cymrischen Reiches und vielleicht das größte militärische Genie, das je auf dem Mittelkontinent gelebt hatte, teilte Gwydion Anborns Auffassung.
Der schwere Teppich unter seinen Füßen hatte sich neben der Stelle, wo Gwydion unbewusst eine Furche getreten hatte, zu einem kleinen Kamm aufgeworfen. Gwydion glättete ihn mit dem Fuß, drückte die Delle zu den Rändern und war gerade am Saum angekommen, als die Tür zu der großen Halle heftig geöffnet wurde.
Im Rahmen stand der Kammerherr und Vertraute seines Vaters, Gerald Owen, ein älterer Cymrer, der schon Gwydions Vater und Großvater und möglicherweise noch einigen Ahnen vor diesen gedient hatte. Der alte Mann trat überrascht einen Schritt zurück und stieß dann die Tür für den jungen Herzog noch weiter auf.
»Na endlich«, murmelte Gwydion, als er die Halle betrat. »Ich habe eine ganze Woche gewartet, um mit ihm zu reden.«
»Dessen ist er sich bewusst, Herr«, sagte Gerald Owen sanft und schloss die Tür hinter ihm. »Der cymrische Herrscher musste sich darum kümmern, dass die Herrin der Cymrer sowie ihr Neugeborenes angemessen behandelt wurden. Bei ihrer Rückkehr befand sie sich in keinem guten Zustand.«
Gwydion blieb stehen und schaute sich rasch um. »Geht es ihr jetzt besser?«, fragte er besorgt. Rhapsody hatte ihn und seine Schwester Melisande vor vier Jahren als Ehrenenkel adoptiert, auch wenn sie in vieler Hinsicht eher eine zweite Mutter für sie beide gewesen war. »Wird sie nicht an der Vollversammlung teilnehmen?«
»Ja und nein«, ertönte eine warme Baritonstimme hinter ihm. Gwydion warf einen Blick über die Schulter und sah seinen Paten in der Mitte des Korridors stehen, die zum Versammlungsraum der Festung führte. Ashe, wie der cymrische Herrscher von seinen Vertrauten genannt wurde, hatte jene blauen Augen, die oft mit der cymrischen Herrscherlinie in Verbindung gebracht wurden, doch sein Gesicht und Körper trugen sowohl Merkmale der Menschen als auch der Lirin. Er hatte drachenartige, senkrecht geschlitzte Pupillen und kupferfarbenes Haar, dessen Glanz beinahe metallisch wirkte. Beides waren Anzeichen für das Drachenblut in seinen Adern. »Man hat sich um sie gekümmert, und sie wird an der Versammlung teilnehmen. Wenn dem nicht so wäre, würden wir ihre Weisheit schmerzlich vermissen.«
»Gut«, meinte Gwydion und sah sich in dem leeren Raum um. »Aber wo ist sie? Und überhaupt, wo sind die anderen? Anborn habe ich früher am Tag gesehen und Achmed und Grunthor noch vor ein paar Augenblicken. Wohin sind sie gegangen?« Sein Blick fiel auf eine Gehmaschine aus Metall, die verlassen in einer Ecke des Raumes stand. Es war ein Wunder der Erfindungskunst, die Anborns Bruder, der Meeresmagier Edwyn Griffyth, ihm zur Verfügung gestellt hatte, damit der lahme Marschall wieder aufrecht gehen konnte. »Was ist hier los, Ashe?«