»Nein«, flüsterte sie. »Bitte, nein.«
Achmed sagte nichts, sondern fuhr unbeholfen mit seiner knochigen Hand über ihr glänzendes Haar. Er hielt sie fest, als sie zu zittern begann, dann wurde sie plötzlich wieder still und schaute auf in sein Gesicht.
Ihre Wangen waren tränennass und ihre Augen geweitet vor Entsetzen.
Dann schaute sie hinunter auf ihren Bauch.
Der sich zwischen ihnen wölbte.
Rhapsody fuhr sich mit der Hand über den Bauch, der nun gedehnt und geschwollen war. Ihr Blick verschwamm.
»Das ist unmöglich«, murmelte sie.
Achmed zog die Brauen zusammen. Er stand auf und zog sie mit sich hoch.
»Wo ist das Licht?«
Grunthor lief zu ihnen und übergab Achmed die Lichtkugel. »Hast sie vor der Schleuse fallen lassen.«
Achmed hielt die Lichtquelle über Rhapsody. Die Wölbung ihres Leibes war nicht zu übersehen. Zu seinem tiefsten Entsetzen glaubte er einen Augenblick später, dort eine Bewegung zu bemerken.
Verblüffung und Erleichterung flogen über Rhapsodys Gesicht. »Er tritt aus. Ich spüre, wie er austritt.«
»Mir wird übel«, sagte Achmed.
»Na, seht euch das mal an«, meinte Grunthor, der höchst erfreut klang. »Der kleine Bengel hat ’nen sicheren Platz gefunden. Wie hat er das bloß hingekriegt?«
»›Geboren frei von den Fesseln der Zeit« , sagte Rhapsody. »Vielleicht bedeutet das, dass er in jede Zeit gehen kann, die er kennt – und das ist die einzige andere Zeit, die er bisher kennen gelernt hat.«
Achmed seufzte; im scharfen Ausstoßen des Atems war deutlich seine Verärgerung zu spüren.
»Das war ja wohl zu erwarten. Die Geschichte ist voller junger Männer, die nicht widerstehen konnten, so lange wie möglich in Rhapsody zu stecken.«
»Nun, das war nicht nett von dir«, tadelte Grunthor ihn. »Du sprichst schließlich von einer Mutter. Wie lautet jetzt der Plan?« Er sah sich in der Dunkelheit nach dem Dhrakier um, doch der Mann war nirgendwo zu sehen. »Und wo ist dein Freund?«
Er steht hinter dir und hält die Tür auf.
Warum bist du noch hier?, wollte Achmed in der stummen Sprache seiner Art von der Dunkelheit wissen. Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, doch ich kann und werde mich nicht an deiner endlosen Suche nach den F’dor beteiligen. Aber wenn ich einem begegne, kannst da sicher sein, dass ich das Ritual kenne und freudig alles tun werde, um ihn zu vernichten. Bist du jetzt zufrieden?
Nein. Es gibt vieles, was du noch nicht weißt.
Ich nehme an, das wird immer so sein, antwortete Achmed. Aber nun muss ich erst einmal in mein Königreich zurückkehren und Vorbereitungen treffen. Wir dürfen hier keine Zeit mehr verschwenden. Wir haben die Pferde verloren und befinden uns zehn Tagesmärsche vom nächsten Außenposten in den nördlichen Zahnfelsen entfernt. Du solltest dich also auf den Weg machen. Ich wünsche dir viel Glück bei deiner Suche. Es tut mir leid, dass ich dich nach so langer Zeit enttäuschen muss.
Ich werde dich begleiten, sagte die unhörbare Stimme. Ich werde dir die Türen im Wind öffnen, auf dass deine Reise schnell vorüber sein wird. Und ich werde dir von dem Gefängnis und der tiefen Kammer der Unterwelt erzählen. Und von deiner Mutter.
Achmed dachte einen Moment lang nach. Ich will dir nicht verpflichtet sein, antwortete der Bolg-König schließlich. Ich bewache das Schlafende Kind, und ich werde mich weder bedrohen noch beschwatzen lassen, es nicht mehr zu beschützen, auch nicht für eine so würdige Angelegenheit wie die Uranfängliche Jagd. Wir können gern gemeinsam reisen, und ich werde mir anhören, was du zu sagen hast. Aber danach wirst du wieder der Mörder sein und ich der König. Wenn du einverstanden bist, ist das nun unsere Abmachung.
Der Wind umtoste ihn und trieb ihm Sand in die Augen. Die Sterne blinkten hell über ihm, während er auf eine Antwort wartete. Schließlich kam sie.
Einverstanden. Der Dhrakier öffnete eine weitere Tür im Wind, hinter der wirbelnde Luftströmungen zu sehen waren. Ich bin Roth, und so kannst du mich nennen.
IV
Der Sturm braut sich zusammen
35
Alle Eroberungskriege haben denselben Vater, lautete ein Sprichwort bei dem Wüstenstamm der Bengard. Es ist der Hunger. Er und seine Enkel – Lust, Gier, Wut, Rache – sind alle aus demselben Sand geformt.
Wenn jemand die Abstammung des Krieges kannte, dann waren es die Bengard. Sie waren große, ölhäutige, kriegerische Männer und Frauen von gewaltiger Größe und beachtlichem Umfang, deren Eroberungskriege in der bekannten Welt ohnegleichen waren, und sie hegten den festen und tiefen Glauben, dass Krieg nicht, nur unvermeidlich, sondern auch nötig und nützlich war. In ihrer andauernden Alarmbereitschaft und dem Willen, aus fast jedem Grund zu kämpfen, lag etwas beinahe Heiliges, das von dieser Kultur mit ihren begrenzten Rohstoffen und dem kargen Land über alles andere geschätzt und bewundert wurde. Es war nicht Kampf um des Kampfes willen, sondern eher Kriegsbereitschaft, sei es zum Angriff oder zur Verteidigung, was sie bei einem Ausbruch von Frieden in die Gladiatorenarena trieb.
Und die Tatsache, dass sie einen Kampf auf Leben und Tod als ziemlich spaßig ansahen.
Doch eines hatten die Bengard nie begriffen: Während der Vater des Krieges der Hunger war, so war dessen Mutter zuweilen die Angst.
Mehr als alles andere fürchtete Beliac, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. In wachem Zustand verbannte er diese Angst in die Tiefen seines Unterbewusstseins.
In einer anderen Situation und bei einem anderen Mann hätte man diese Angst für noch irrationaler als viele andere halten können. Während Angst ein Kobold war, der sich in den schwarzen Schlünden des Geistes aufhielt und im hellen Tageslicht keine Existenzberechtigung mehr hatte, war die Furcht, lebendig verspeist zu werden, eher seltsam angesichts der üblichen Ängste – der Angst vor der Dunkelheit oder dem Eingeschlossensein, vor Reptilien oder Spinnen, vor der Höhe oder dem Scheintod. Wenn es jemand anderes als Beliac gewesen wäre, hätte man die Angst davor, dass ihm bei lebendigem Leibe das Fleisch abgenagt und vor seinen Augen heruntergeschluckt werde, durchaus als verrückt bezeichnen können.
Doch Beliac hatte einen besseren Grund als die meisten, sich vor einer solchen Möglichkeit zu fürchten.
Beliac war der König von Golgarn, der ans Meer grenzenden Nation im Südosten hinter den Manteiden, den Bergen, die auch als Zahnfelsen bekannt waren.
Und seine Nachbarn im Norden waren die Firbolg.
Im Vergleich zu den anderen Monarchen auf dem Kontinent war Beliac schon lange König von Golgarn. Er hatte den Thron seiner friedfertigen Nation vor mehr als einem Vierteljahrhundert bestiegen, und seine Regentschaft war angenehm gewesen. Sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum war von der Bevölkerung mit einem großen Fest gefeiert worden. Die Berge, die für den Handel nach Norden ein großes Hindernis darstellten, waren zugleich sein größter Schutz, und in Anbetracht der Legenden über das Volk, das auf der anderen Seite der Berge lebte, war er für diese Barriere sehr dankbar.
Dennoch erinnerte er sich genau an all die Geschichten des Grauens, die ihm in seiner Kindheit von seinen Kindermädchen und Spielgefährten erzählt worden waren. Es waren Geschichten von plündernden und mordenden Ungeheuern, welche wie Ziegen auf Händen und Füßen durch das Gebirge huschten und nach Beute in Form von menschlichen Kindern suchten. Als er älter geworden war und die Geschichte des Kontinents studiert hatte, war ihm bewusst geworden, dass diese Schreckensgeschichten einen wahren Kern besaßen und die Firbolg in der Tat eine kannibalische Rasse waren, gehärtet durch die Eroberungen aller Länder, in denen sie je gewohnt hatten. Sie hatten von jeder Kultur etwas aufgenommen, mit der sie in Berührung gekommen waren. Sie waren halbmenschliche Ratten, und wie die Ratten taten sie alles, was für ihr Überleben erforderlich war – einschließlich des Verspeisens ihrer Feinde.