Es spielte keine Rolle, dass Beliac noch nie einen Firbolg gesehen hatte. Es war gleichermaßen egal, dass bisher keiner seiner Ratgeber oder Verbündeten einem begegnet war. Die Firbolg hatten die Bergstadt Canrif in den nördlichen Manteiden eingenommen, was gegen Ende des Cymrischen Krieges etwa dreihundert Jahre vor der Regentschaft von Beliacs Vater geschehen war, und seitdem lebten sie dort, jagten gelegentlich Bergziegen, verirrtes Wild und sich selbst. Die Bewohner von Golgarn hatten von ihnen bisher keine Überfälle und Gewalttätigkeiten erdulden müssen.
Aber das war gleichgültig.
Beliac hatte wie jeder andere Junge in seinem Königreich als Kind die Geschichten über heimliche Angriffe zur Nachtzeit gehört, wenn die Bolg durch die Fenster der Kinder kletterten, Neugeborene aus den Wiegen stahlen und sie unter dem Geräusch mahlender Kiefer und schmatzender Lippen in die Nacht hinaustrugen. Den Legenden zufolge wurden die Kinder stückweise verspeist. Es hieß, die Bolg drückten ihnen ein Kissen auf das Gesicht, um sicherzustellen, dass sie keinen Laut von sich gaben, während die Ungeheuer die Kleinen aus Golgarn von den Füßen an nach oben hin verschlangen. Beliac hatte im Alter von acht Sommern die Angewohnheit seiner Freunde angenommen und es vermieden, auf einem Kissen oder ohne Schuhe zu schlafen.
Als er zum Mann herangereift war, hatte er allmählich erkannt, dass diese Geschichten Lügen waren, Legenden wie jene von den Gespenstern und Ungeheuern, welche sich die Kinder gern gegenseitig erzählten, um einander zu erschrecken. Dennoch war etwas tief in ihn gepflanzt worden, irgendwo zwischen Verstand und Unvernunft. Im Gegensatz zu den anderen Kindern war er im Bewusstsein der Verantwortung für ein ganzes Reich erzogen worden, das er einmal würde beschützen müssen, und diese Verantwortung hatte er nie abschütteln können. Es war ihm nicht gelungen, dieses Grauen zu überwinden, auch wenn er nervös darüber lachte und versuchte, es aus seinem Bewusstsein zu verdrängen.
Es war eine persönliche Schwäche, die er vor vielen Jahren einmal unbedachterweise während eines Essens, das von den Weingeistern Argauts begleitet worden war, einem seiner Freunde gegenüber erwähnt hatte.
Einem Kaufmann namens Talquist.
Die Rabengilde von Yarim hatte schon immer einen weiblichen Gildenmeister gehabt.
Niemand wusste genau, warum das so war. Die meisten Gilden in der Unterwelt der organisierten Diebe und Mörder wurden von einem Meister geführt, dessen Stärke und Unbarmherzigkeit immer wieder auf die Probe gestellt wurde, bis er endlich unumschränkt herrschen konnte. Unterstützt wurde er dabei von einer ganzen Kohorte ähnlich starker Handlanger und Lakaien. Es war dasselbe System wie in den Palästen, Kasernen und Handelshäusern der ganzen Welt, doch oft fiel man sich nicht so sehr in den Rücken wie dort. Diebe und Mörder wussten im Gegensatz zu Königen, Soldaten und Händlern, wann sie sich zurückziehen mussten.
Aber in der Rabengilde von Yarim war es anders. Im Gegensatz zu allen Brudergilden auf der ganzen Welt befand sie sich von Anfang an im stählernen Griff einer Reihe von Frauen. Daher war sie nicht nur die am besten organisierte aller bekannten Gilden und hielt die gesamte Macht der Hauptstadt Yarim Paar unter strenger Kontrolle, sondern sie war auch die gnadenloseste, und rachsüchtigste.
Die Mütter der Gilde hatten seit jeher die Notwendigkeit erkannt, sich einen großen Teil der Industrie in der Stadt anzueignen – in Yarim Paar handelte es sich hierbei um eine gewaltige Ziegelbrennerei –, sodass die schändlicheren Aspekte der Gildengeschäfte nur Nebenerwerb und Mittel waren, die Oberherrschaft zu behalten. Die Gilde arbeitete öffentlich, und sogar der Herzog der Provinz wagte es nicht, sie in ihren Tätigkeiten zu behindern. Einer seiner Vorfahren war so dumm gewesen, dies zu versuchen, und daraufhin wäre die dynastische Linie fast untergegangen.
Daher zeigten die Mitglieder der Rabengilde eine beinahe religiöse Hingabe an ihre Gildenmeisterin. Esten die gegenwärtige Meisterin, wurde wie eine Göttin verehrt, seit Dranth, der Kronprinz der Gilde, mit angesehen hatte, wie sie im Alter von acht Sommern einen Soldaten in einer Hintergasse ausgeweidet hatte. Sie war schnell zu einer alles beherrschenden Frau geworden und hatte während ihres gesamten Erwachsenenlebens die Gilde, die Stadt und einen großen Teil der Provinz Yarim in ihrem gnadenlosen Griff gehalten. Die Rabengilde herrschte unangefochten auf dem Schwarzmarkt, bei Diebstahl, Mord und einer Reihe noch grausamerer Verbrechen und erhob ihre Schrecklichkeiten zur reinen Kunstform.
Doch die Gildenmeisterin war erst kürzlich und völlig unerwartet vom General des Bolg-Königs ermordet worden.
Die Gilde litt noch immer unter dem Schock, den sie erfahren hatte, als man ihr in einer Lederkiste den vom Rumpf abgetrennten und nachlässig in Pergament eingewickelten Kopf der Meisterin übersandt hatte. Der ewig währende Bluteid, den alle Mitglieder daraufhin gegen die Männer geschworen hatten, die nun ihre Feinde waren – Achmed die Schlange, der König von Ylorc, und sein Militärkommandant, Estens Mörder –, war das dunkelste Racheversprechen, das je erklärt worden war. Wenn die Gilde auf ihrem Geheimtreffen zur Planung schändlicher Verbrechen gewusst hätte, dass dieser König, sein Sergeant und die cymrische Herrscherin verstohlen über den roten Lehm und Sand der offenen Wüste dieser Provinz liefen, dann hätte sich die Gildenhalle wie ein platzendes Herz plötzlich entleert, und Blut wäre auf den Wüstensand geflossen, bis er schwarz geworden wäre.
Doch die Gilde wusste nichts vom Weg der drei durch ihr Gebiet.
Und die Anführer der Gilde befanden sich nicht in Yarim. Sie waren in Golgarn. Keiner von ihnen hatte je zuvor diese Nation bereist, doch sie suchten dort ihre Brudergilde in den dunkleren Straßen der Hafenstadt auf.
Dranth, der Kronprinz der Gilde, blieb angeekelt vor einer schmutzigen Taverne in einer Seitenstraße des Seemannsviertels stehen und wandte sich an Yabrith, einen der führenden Gildenmänner, einen Dieb, Mörder und Schläger. Der Ausdruck der Verärgerung machte Dranths hohlwangiges Gesicht noch beängstigender.
»Was für ein Geschäft betreibt dieser so genannte Spinnenhaufen?«, fragte er verächtlich. »Das hier ist schon der dritte Ort, und alle sind verlassen. Proletarier! Diese Gilde besitzt nicht einmal eine richtige Halle. Ich kann einfach nicht glauben, dass Esten mit ihnen etwas zu tun hatte. Sie sind nichts anderes als Straßenratten, die von einem Loch ins nächste huschen, wenn sie wieder einmal aufgescheucht wurden. Es beschämt mich, dass wir entfernt denselben Beruf haben.«
Yabrith schaute sich nervös in der Gasse um. »Man kann sich nie sicher sein, Herr. Vielleicht sollten wir erst den letzten der Orte überprüfen, die man uns genannt hat, oder?«
»Uns bleibt wohl nichts anderes übrig«, stimmte Dranth ihm zu. Er zog sich die Kapuze seines Mantels enger um den Kopf, ging die Gasse hinauf zum Kai und suchte nach dem Zeichen eines Schmieds, dem Fass mit dem roten Reifen darum.
Der Wind, der vom Meer her blies, war frisch und salzig, ganz anders als die heißen Brisen voller Sand und der Rauch aus der Ziegelei, an die sie gewöhnt waren. Als die beiden Männer die Straßenecke umrundeten stemmten sie sich gegen den Wind, der nun nach fauligen Fässern und Fisch sowie nach Pech und verrottendem Holz stank.
Der Hafen von Golgarn war für eine so kleine Nation von beeindruckender Größe; seine siebenhundert Kais und Docks waren zu jeder Jahreszeit voll besetzt. Golgarns Marine hatte ihren eigenen Außenhafen, durch den alle Handels- und Kriegsschiffe fahren mussten und der die Docks davor bewahrte, zu einem Zufluchtsort für illegalen Handel zu werden. Der Haupterwerb des Landes war der Handel, denn es besaß einen der östlichsten geschützten Häfen der bekannten Welt, der zu weit von Sorbolds Skelettküste entfernt war, um in Konkurrenz zu ihr zu treten. Der zweitgrößte Erwerbszweig war die diesen Handel unterstützende Gastfreundschaft. Tavernen, Herbergen und Wirtschaften jeder Art säumten die Straßen, die vom Wasser wegführten, und kümmerten sich um alle möglichen Bedürfnisse ihrer seefahrenden Kundschaft.