»Ich glaube, das habe ich schon gesehen«, sagte Dranth nur.
»So ist es auch mit unserer Gilde. Im Gegensatz zu deiner, die, wie ich höre, dank eures schwachen Provinzfürsten ganz offen operiert, sind wir eine arme Bande, die unter dem Druck der Krone steht. Wegen all dem Handel im Hafen von Golgarn ist jede zweite verdammte Person auf der Straße ein Soldat oder ein Marineinfanterist, der dazu ausgebildet ist, gegen Piraten und andere Verbrecher des Meeres zu kämpfen. Um es kurz zu machen, Dranth, Golgarn wimmelt vor Gesetzeshütern. Da bleibt einer Gilde, die etwas auf sich hält, nichts anderes übrig, als im Schatten zu operieren und sich anzupassen.«
»Das verstehe ich«, sagte Dranth. »Und wenn ihr einverstanden seid, mir zu helfen, kann ich euch vielleicht dabei helfen, diese Lage zu ändern.«
Die schattenhaften Gestalten sahen einander an.
»Tatsächlich?«, fragte Jan Burgett. »Das ist ein großes Wort. Teile uns die Einzelheiten deines Vorschlags mit.«
Dranth lehnte sich zurück. Er griff in seinen Umhang und zog ein in Leder eingewickeltes Päckchen heraus.
»Ihr werdet euch wieder bei einem eurer früheren Pfosten oder Pylone treffen – an einem Ort, der früher schon einmal durchsucht wurde und als euer Treffpunkt bekannt ist und wo euer sprichwörtliches Spinnennetz weggewischt worden ist. Es ist egal, wo das ist, solange die Krone diesen Ort kennt. Ihr werdet dafür sorgen, dass sie davon erfährt – und sie wird ihn abermals stürmen. Wenn sie das tut, habt ihr euch natürlich schon in alle Winde zerstreut, aber sie werden verschiedene Beutestücke, vielleicht auch Waffen, Schmuggelwaren und vor allem diese Dokumente hier finden.«
»Und wenn ich diese Dokumente lesen könnte, was würde ich aus ihnen erfahren?«
Das Boot schwankte stärker, und Dranth drehte es den Magen um. Die Männer des Spinnenhaufens schienen es nicht zu bemerken.
»Es sind Karten«, sagte er. »Karten von Tunneln fünf Meilen hinter Golgarns nordwestlicher Grenze, wo die Firbolg lagern und sich zum Angriff sammeln.«
Der einzige Laut im Raum waren das Knirschen des Schiffes und das Plätschern der Wellen.
Dann lachten die Schatten wie ein Mann auf.
»Die Firbolg?«, meinte Jan Burgett ungläubig. »Bist du sicher, dass sie sich nicht auch noch mit den Kobolden und den Trollen verbündet haben?«
Dranth erwiderte das Lachen nicht.
»Ich versichere dir, Burgett, dass euer König ein solches Lager in den Bergen finden wird, wenn er seine Späher losschickt, um den Wahrheitsgehalt dieser Dokumente zu überprüfen – und das wird er tun.«
»Wird er das?«
»Ja, das wird er. Schlechte sanitäre Einrichtungen, Knochen vor den Höhleneingängen, das ganze Albtraumszenario – auch wenn ihr und ich wissen, dass das Ganze lächerlich ist. Es hat mich einiges gekostet, das alles aufzubauen, aber es ist beeindruckend realistisch.«
Der Rothaarige lächelte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Dann verschränkte er die Finger ineinander und legte die Hände auf seinen Bauch.
»Also gut, ich bin beeindruckt. Aber was für ein Gewinn liegt für dich – und für mich – darin, Beliac davon zu überzeugen, dass die Bolg sich in den Bergen vor Langswerth sammeln?«
»Es ist ein Ablenkungsmanöver«, erklärte Dranth. »Beliac wird über die Vorstellung, dass Golgarn ein Fressen für die Firbolg wird, in Panik geraten. Und da er nicht die Landstreitkräfte hat, um etwas dagegen zu unternehmen, wird er sich an einen Verbündeten wenden, der diese Heere besitzt. Im Gegenzug wird er seine Seestreitkräfte und das traurige kleine Heer, das er hat, jenem Verbündeten zur Verfügung stellen, wenn er nur vor den großen, bösen Firbolg gerettet wird – die sich überhaupt nicht dafür interessieren, ob ihr oder wir leben oder sterben. Für euch bedeutet das, dass die Allgegenwart des Militärs vorbei ist. Sobald die Männer von Golgarn in den kommenden Krieg ziehen, könnt ihr aus den Schatten ans Licht kriechen und werdet auf viele ungeschützte Zivilisten und Besucher eures schönen Landes treffen, die nicht länger den gewohnten Schutz genießen. Die Schiffe will ich dabei erst gar nicht erwähnen. Ihr könnt eure Tätigkeit aus der Schattenzone herausholen und tun, was immer euch beliebt. Und mein vorhin genannter Freund der zufällig der Verbündete ist, an den sich Beliac wenden wird, wird die Unterstützung erhalten, die er für seinen Krieg unbedingt braucht.«
Burgett stieß verwundert die Luft aus. »Und was springt für dich dabei heraus?«
Ein feines Lächeln durchbrach schließlich Dranths steinerne Miene.
»Die Rabengilde wird das erhalten, was sie am meisten begehrt – Rache an denjenigen, deren Taten mir zu meiner Stellung verholfen haben.«
Die eulenartigen Augen funkelten vor Neugier.
»Sehr gut«, sagte der Rothaarige; seine tiefe Stimme klang sanft und volltönend. »Ich nehme deinen Vorschlag an, Dranth von der Rabengilde. Geh zurück zum Kai – folge dem Mann, mit dem du hergekommen bist – und geh allein in der Nacht zu einer Herberge im Windschatten des nördlichen Stadttores. Du wirst den Ort an den Brandmalen draußen und an dem weißen Stroh seines Dachs erkennen. Nimm die Seitentür und bitte die Frau hinter dem Tresen, sie möge ihren Mann herausschicken, weil du mit ihm reden willst. Sag ihm, du willst einen Karrengaul kaufen, und gib ihm deine Papiere. Du kannst sicher sein, dass man sie so auffinden wird, wie du es dir erhoffst.«
»Und wie lautet der Name des Mannes, den ich suche?«, fragte Dranth, während er vom Tisch aufstand und fest mit beiden Beinen auftrat. »Nur für den Fall, dass es am Tresen der Herberge mehr als eine Frau mit einem Mann gibt.«
Die perlenartigen Zähne schimmerten weiß in der Dunkelheit der Kajüte.
»Nun, sein Name lautet natürlich Jan Burgett.«
Nachdem die Herberge durchsucht worden war, landeten die Papiere in Windeseile auf Beliacs Schreibtisch.
Der König befand sich beim Frühstück und süßte gerade seinen Haferbrei mit Zuckersirup, als der Bote eintraf, den der überaus tüchtige Kommandant der Stadtpolizeibrigade losgeschickt hatte.
Der König öffnete das Päckchen des Kommandanten, las den Inhalt und spuckte das Frühstück über die ganze Länge des Tisches aus. Die Königin von Golgarn, die ihm gegenüber saß, stand angeekelt von ihrem Stuhl auf, während seine erwachsenen Kinder ein Lachen unterdrückten.
Sofort wurden Späher losgeschickt, wie Dranth vorhergesagt hatte. Als sie die Bergpässe im Nordwesten der Präfektur Langswerth betraten, bot sich ihnen ein Anblick, der schon seit tausend oder mehr Jahren in den Bereich des Albtraums verbannt war.
Vom Beginn des ersten Passes bis zum Gipfel des Hügels, hinter dem das Reich der Berge begann, erstreckte sich ein aus menschlichen Knochen gebildeter Pfad, der von sorgfältig eingerammten Pflöcken flankiert wurde.
Auf jedem dieser Pflöcke steckte ein menschlicher Kopf in den verschiedensten Stadien der Verwesung.
Der Gestank des Lagerplatzes, der von unterschiedlichen ekelhaften Quellen herrührte, war so überwältigend, dass zwei der vier Späher sofort umdrehten und sich übergaben. Die beiden unerschrockeneren, die etwas stärkere Mägen hatten, wagten sich in den Schutz der Bäume neben dem Pfad und gingen weiter, bis sie eine Stelle erreichten, wo sie durch ein Fernglas das Lager selbst beobachten konnten.
Eine Reihe von Höhlen, die von unten aus nicht sichtbar gewesen waren, wurden von großen, menschenähnlichen Kreaturen bewacht. Sie waren zottig und mit Schmutz überzogen und waren damit beschäftigt, grausam aussehende Waffen zu schärfen und Katapulte mit Armen aufzustellen, die mit Leichtigkeit Gewichte von zweihundert Steinen oder mehr heben konnten. Sie schienen mit ihren Waffen auf den Bergpässen den Abwehrkampf zu üben, doch es gab auch Anzeichen dafür, dass sie weiter oben in den Bergen ähnliche Lager errichtet hatten, von denen aus die Stadt nicht nur sichtbar, sondern auch in Reichweite war.