Dranth und Yabrith blieben in Golgarn und bezogen Zimmer in der wunderbaren Herberge Zur Seeherzogin im Herzen der Juwelenstraßen. Sie genossen die gute Küche der Hafenstadt, einschließlich der neuen Erfahrung der Meeresfrüchte, die ganz nach Dranths Geschmack waren, wie er feststellen konnte. Yabrith litt noch unter dem Geruch der See und vermochte nichts Anspruchsvolleres als Fischeintopf herunterzubekommen.
Es war nur eine Sache von Tagen, bis die Nachricht den Palast erreicht hatte. Zwar waren beide Männer nicht an den Gesprächen des Königs mit seinen Spähern beteiligt, aber an deren Ausgang konnte kein Zweifel herrschen.
Sie saßen eines schönen Morgens auf der Terrasse der Seeherzogin, als eine Kutsche der königlichen Post durch die gut gepflasterten Straßen klapperte. Der Fahrer trieb die Pferde unbarmherzig an, damit er die ablaufende Flut nicht verpasste.
»Was wird die Botschaft, die er bei sich hat, wohl sagen?«, fragte Yabrith müßig und pulte sich mit einem Elfenbeinstocher die Wurstreste aus den Zähnen, während sie zusahen, wie der Fahrer einem Soldaten bei den Docks ein versiegeltes Päckchen übergab.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, meinte Dranth und faltete seine Serviette zusammen. »Aber irgendetwas sagt mir, dass es für uns an der Zeit sein könnte, nach Hause zurückzukehren. Ich habe die Gastfreundschaft des Jan Burgett jetzt lange genug ertragen.«
37
Tief im alten cymrischen Land, hinter der weißen Heide jenseits des Tales und geschützt durch einen hohen inneren Kreis aus Felsformationen, lag Kraldurge, das Reich der Geister. Es war der einzige Ort, den kein Bolg betrat. Seinem äußeren Anschein nach war er abstoßend und trostlos.
Welche schreckliche Tragödie sich hier abgespielt hatte, war aus den Legenden nicht mehr deutlich zu ersehen, doch sie war so verheerend gewesen, dass sie eine dauernde Narbe im Andenken der Firbolg hinterlassen hatte, die in diesen Bergen lebten. Nur in widerstrebendem Flüstern sprachen sie von Knochenfeldern und wandelnden Dämonen, die jede Kreatur verzehrten, welche das Unglück hatte, ihre Wege zu kreuzen; und sie erzählten von Blut, das aus dem Boden aufstieg, und von Winden, die jeden entzündeten, den sie auf der Ebene erwischten.
Es war auch der Ort, der den Anfang der Länder bezeichnete, welche der Ersten Frau ihres Königs gehörten, wie die Firbolg Rhapsody nannten. Das war ein noch besserer Grund, sich dieser Gegend nicht einmal zu nähern.
In einem Kreis von Wächtersteinen, die sich hoch in die Berge um sie herum reckten, lag eine mit Blumen übersäte Wiese, welche Rhapsody bei ihrem ersten Besuch an diesem Ort gepflanzt und um die sich während ihrer Abwesenheit niemand mehr gekümmert hatte. Im Mittelpunkt der Wiese befand sich eine hügelähnliche Erhebung, der Rhapsody damals wegen der außerordentlichen Schwingungen, die sie dort vorgefunden hatte, besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Es war etwas zutiefst Trauriges und überwältigend Beunruhigendes an dem verborgenen Tal, doch besonders traf das auf die Spitze des Hügels zu. Aus diesem Grund hatte Rhapsody sie mit wilden Stiefmütterchen bepflanzt, welche die Lirin in der alten Welt auf Gräbern und Schlachtfeldern ausgesät hatten. Sie waren ein Zeichen der Trauer und Versöhnung, vor allem aber des Beileids. Damals hatte sie nicht gewusst – und sie wusste es auch heute noch nicht –, wofür sie sich mit dieser Geste zu entschuldigen versucht hatte und was in der fernen Geschichte des traurigen, windgepeitschten Ortes geschehen war, weswegen der Boden noch immer in Schmerzen schrie, doch es musste so entsetzlich und so unendlich falsch gewesen sein, dass nichts anderes mehr getan werden konnte außer der sanften Gabe von Blumen und einem tröstenden Lied in der Hoffnung, die Erde könnte dadurch wenigstens ein bisschen zur Ruhe kommen.
Der Ruf Kraldurges, ein Spielplatz der Dämonen und anderer Vorboten des Bösen zu sein, rührte teilweise von seiner geologischen Beschaffenheit her. Jeder, der durch den Kreis der Wächterfelsen schritt, fand sich in einer tiefen Schlucht wieder, die von hoch aufragenden Klippen umgeben wurde. Es war unmöglich, dort herumzugehen, ohne dass die Schritte von den Schluchtwänden widerhallten und gewaltig verstärkt wurden. Auf diese Weise wurde alles, was sich innerhalb der Felsen befand, frühzeitig gewarnt, was in den Bolglanden immer sehr gefährlich war, die schon seit vielen Jahren von hungrigen halbmenschlichen Wesen auf der Suche nach Beute durchstreift wurden.
Die Schlucht, welche die Wiese verbarg, war so tief, dass der Wind kaum je bis auf ihren Grund hinabreichte. Er heulte um die hoch aufragenden Felsspitzen und erschuf ein trauervolles Jammern. Selbst der tapferste Bolg oder der gelehrteste Mensch konnten diesen Lärm zuweilen für das Kreischen der Dämonen halten. Trotz der natürlichen Erklärung des Lautes lag über dem Ort ein Gefühl tiefster Traurigkeit, überwältigenden Kummers und größter Wut.
In ihrer Zeit als Herzogin dieser Ländereien hatte sich Rhapsody gefragt, ob Kraldurge nicht vielleicht ein vergessener Begräbnisplatz aus den frühesten Tagen des Cymrischen Krieges war. Er wurde nicht in den Manuskripten in Gwylliams riesiger und beeindruckender Bibliothek erwähnt, deren Schriftrollen und Bücher einen großen Teil der Weisheit der Welt enthielten und die sie bei der Entdeckung dieses Ortes vor vier Jahren gefunden hatten. Die Gabe der Friedensblumen schien etwas bewirkt zu haben. Obwohl der Wind weiterhin um die Bergspitzen heulte und schrie und die Schlucht mit unheimlichen, beunruhigenden Lauten erfüllte, erweckte der Boden den Anschein, als schlafe er friedlich, auch wenn er nicht wirklich Frieden gefunden hatte.
Oder er hatte Frieden gefunden, bevor die Drachin gekommen war.
Der Wind jammerte hoch über der Schlucht und war noch beladen mit den Eiskristallen des weichenden Winters, als sich die letzte Tür ihrer Reise öffnete. Rath trat hinaus in das Tal und machte dann Platz, damit die anderen drei Reisenden die Brise verlassen konnten.
Rhapsody kam als Letzte heraus. Die Rückkehr des Kindes in ihren Bauch hatte viele der Symptome zurückgeholt, die sie während ihrer Schwangerschaft erfahren hatte: Die Übelkeit und Benommenheit und vor allem der verschwimmende Blick verschafften ihr ein Gefühl der Unsicherheit, das viel stärker war als bei den beiden Bolg während ihrer Reise im Wind. Sie spürte ein plötzliches, ungewöhnliches Schweigen der drei Männer. Niemand wollte der Erste sein, der etwas sagte. Sie erkannte den Grund dafür nicht.
»Was ist los?«, fragte sie. »Ist alles in Ordnung?«
»Das kommt darauf an, was du unter ›alles in Ordnung‹ verstehst«, erwiderte Achmed, drehte sich langsam um und betrachtete die Zerstörungen vor sich.
Die Felswände waren bis beinahe in die Spitzen versengt. Der Boden, von dem Rhapsody geglaubt hatte, er enthalte die Gebeine der Soldaten, die im Cymrischen Krieg gekämpft hatten und gestorben waren, oder vielleicht die noch älteren Körper jener Seelen, die nach der Ankunft der Dritten Flotte in Canrif verhungert oder krank geworden waren, war von einer Seite der Wiese bis zur anderen aufgerissen.
»Sieht nicht so aus wie beim letzten Mal, als du hier warst, Rhapsody«, meinte Grunthor. »Der neue Mieter ist ’n bisschen unordentlicher als du.«
»Der neue Mieter«, fragte Rhapsody heiter und versuchte, einen klaren Blick zu bekommen. »Was für ein neuer Mieter? Wem hast du denn mein Land vermietet, Achmed? Ich dachte, du würdest es für mich bis in alle Ewigkeit bereithalten. Das habe ich schließlich verdient.«
»Nun, ich würde sagen, es ist eher ein unrechtmäßiger Siedler als ein Mieter«, antwortete Achmed und suchte nach dem Weg hinunter in die verborgene Grotte, die als Elysian bekannt war. Er fand ihn einen Augenblick später in einem Haufen von Felsen und Rasenstücken, welche die Drachin auf ihrem Weg umgestürzt und herausgerissen hatte. Ursprünglich war der Zugang in einer Nische versteckt gewesen, die immer im Schatten lag und so gut geschützt war, dass Achmed beim ersten Mal lange gebraucht hatte, um sie zu finden. »Ich weiß nicht, ob du in die Grotte hinuntersteigen kannst, Rhapsody. Vielleicht ist es das Beste, wenn du in die Stadt mitkommst und dich im Berg einquartierst.«