»Erinnerst du dich nicht mehr an Omet?«, fragte Achmed spöttisch. »Du warst doch diejenige, die darauf bestanden hat, ihn aus den Brennöfen der Rabengilde zu retten.«
Rhapsodys hellgrüne Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. »Omet?«, fragte sie verdutzt. »Du bist doppelt so groß wie damals, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Warst du da nicht kahlköpfig?«
»Allerdings«, antwortete der junge Mann freundlich. »Aber es war heiß in Estens Ziegelei, und hier im Berg ist es kalt.«
»Omet hat die Oberaufsicht über die Härtung des Glases und den Bau des Lichtfängers«, sagte Achmed. »Er ist einer der wenigen Handwerker, dem ich erlaube, allein in diesem Raum zu sein.« Er verstummte. Omet war bei der Explosion, die den Gipfel des Gurgus erschüttert hatte, schwer verwundet worden, und es war das rote Spektrum des Lichtfängers gewesen, das ihm das Leben gerettet hatte.
Rhapsody umarmte den jungen Mann warmherzig. »Ich freue mich so sehr, dich wieder zu sehen«, sagte sie.
»Nun, du warst es, die mir gesagt hat, ich solle meinen Namen in den Berg einmeißeln, damit die Geschichte ihn sehen kann«, sagte Omet lächelnd. »Ich tue nur, was du mir geraten hast.«
Rhapsody schaute sich um. Von der Explosion war nichts mehr zu sehen; der Raum war wiederhergerichtet worden, als wäre nichts geschehen. Eine hölzerne Kuppel bildete die Decke des Turms, unter der sie farbiges Glas aller Schattierungen erkennen konnte.
»Ich freue mich darauf, dass du mir zeigst, was du vollbracht hast«, sagte sie.
Sie schaute hinter sich und sah, wie Rath unter der Kuppeldecke stand und hoch zu dem Kreis aus Glas starrte. »Alles in Ordnung?«
Der Dhrakier nickte. »Ich habe so etwas schon einmal gesehen«, sagte er, während er weiterhin die Decke anstarrte. »Es war an einem Ort, an dem ich die Prophezeiung des Kartenspiels kennen gelernt habe.«
Der Bolg-König neigte den Kopf.
»Würdest du das bitte weiter ausführen?«
Schließlich wandte der Dhrakier den schwarzen Blick ab und sah Achmed an.
»Kennst du nicht die Prophezeiung des Kartenspiels?«
»Nein.«
»Sie lautet so: ›Das, was gestohlen ward, wird freiwillig gegeben werden. Das, was freiwillig gegeben ward, wird gestohlen werden.«
»Das hat für mich keine Bedeutung«, sagte Achmed mürrisch.
Rath atmete tief ein.
»Ich werde dir die Geschichte erzählen. Dann weißt du, wogegen du kämpfst.«
38
»In der Vorzeit wurde von den vier verbliebenen uranfänglichen Rassen, die aus den Elementen geboren waren, ein großer Kampf gegen die F’dor geführt«, begann Rath. »Unsere Rasse, die Brüder, die unter den Menschen als die Blutsverwandten bekannt ist, tat sich zusammen mit den Serenel, den Mythlinus und den Wyrmril, welche die Menschen Drachen nennen. Es wurde befürchtet, dass die ungebändigte Zerstörungskraft der F’dor die Welt vernichten würde, wenn sich diese vier Rassen, die in Abgeschiedenheit lebten und einander nicht vertrauten, nicht zusammenschlossen und etwas opferten, was ihnen höchst wertvoll war.
Bevor die Schlacht begann, gelang es den F’dor, eines der ersten sechs Eier zu stehlen, die von der Stammmutter der Drachen gelegt worden waren, die gleichzeitig der Stammvater der Rasse war. Dieses Ei versteckten sie in den Eingeweiden der Erde jenseits des Feuerkerns, wo niemand es finden konnte. Der Wyrmling, der diesem Ei entsprang, war bei dem Drachenvolk als das Erste Kind bekannt. Die F’dor nahmen diesem Wyrmling die Wärme, ließen es ungeboren wachsen, pervertierten es und fütterten es mit der Erde selbst, bis seine Masse zu einem wesentlichen Teil der Welt geworden war.«
»Wir haben es gesehen«, sagte Achmed. »Es schläft noch immer. Rhapsody hat ein Lied endlosen Wechsels um es herum gewoben, ein Muster aus Verwirrung, von dem sie hofft, dass es jede Nennung seines Namens unhörbar macht.«
Die flüssige Schwärze in Raths Augen glitzerte. »Hoffen wir, dass ihr recht habt. Von diesem Schlafenden Kind ernteten die F’dor sieben wertvolle Schuppen und nahmen auch die beiden, die seine blinden Augen schützten. Weil die Drachen die Kräfte aller anderen Elemente besitzen, stecken in diesen Schuppen die Macht des gesamten Farbspektrums sowie die Lichtschwingungen und Töne, aus denen die Magie des Universums zusammengesetzt ist. Jede einzelne Farbe der sieben Schuppen hat eine bestimmte Macht, die an ihre Wellenlänge gebunden ist, und einen bestimmten Ton; diese beiden Eigenschaften sind die sichtbaren und hörbaren Manifestationen jener Schwingungen. Wie deine Benennerin dir sagen kann, gibt es viele weitere Manifestationen, die weder sichtbar noch hörbar sind. Das weißt du auch selbst, Bolg-König – du kannst sie jeden langen Tag in deinem Hautgewebe spüren.
Daher waren die F’dor in der Lage, mit diesen Drachenschuppen die materielle Welt zu beeinflussen, von der sie sonst kein Teil gewesen wären, denn sie besitzen keine Gestalt und sind unkörperlich. So aber haben sie die Kontrolle über das komplette Spektrum der sieben Farben sowie über die zwei mächtigsten Gegensätze, die sie aus den Augen des Wyrmlings geholt haben: Schwarz, das die Leere darstellt, und Weiß, welches das Leben bedeutet. Sie haben diese Kräfte zur Vernichtung, zum Wahrsagen, zu Vulkanausbrüchen, Blutvergießen, Wärmediebstahl und anderen Missetaten in der materiellen Welt eingesetzt.
Aus diesem Grund haben sich die übrigen uranfänglichen Völker im Kampf gegen die F’dor zusammengetan. Die Geschichte stellt es so dar, als wäre es ein offensichtlicher Konflikt gewesen, doch ich kann euch versichern, dass das nicht der Fall war. Zwar mag es für euch so erscheinen, als ob sich die Elemente des Sternenlichts, der Erde, des Wassers und des Windes im Gegensatz zum Feuer befänden, doch in Wirklichkeit waren sie ursprünglich nicht getrennt, sondern sind alle miteinander verwandt. Diese Entscheidung zum Kampf wurde daher unter Schmerzen und nicht im Triumph oder mit der Absicht der Unterwerfung getroffen. Der Pakt, durch den all das, was der Erde Wärme und Licht brachte, aus ihr entfernt werden sollte, verdammte diese Rasse dazu, weniger zu sein, als sie dem Willen des Schöpfers nach hätte sein können. Doch es blieb nichts anderes übrig, und am Ende waren wir alle ärmer. Dies sind vergessene Überlieferungen, welche die Geschichte und sogar einige, die sie durchlebt haben, inzwischen vergessen haben.
Als die Entscheidung endlich getroffen war, bedeutete dies, dass von den vier verbleibenden Rassen schreckliche Opfer abverlangt werden würden. Du weißt, was unsere Rasse dafür geopfert hat, Bolg-König. Die Söhne des Windes besaßen die einzigartige Fähigkeit, die Bewegungen alles Unkörperlichen aufzuspüren, und so wurde entschieden, dass der Stamm der Blutsverwandten, der auch als die Dhrakier bekannt war, als Gefängniswärter dienen sollte. Dazu musste er sein Band mit dem Wind lösen und die Fähigkeit aufgeben, die Oberwelt zu durchstreifen. Stattdessen war es seine Aufgabe, die Tiefe Kammer zu bewachen. Die Dhrakier verließen den Wind, der ihr Vater war, und begaben sich für immer in das schwarze und luftlose Innere der Erde, in einen seelenlosen, leblosen Bereich der Welt, um diese vor denen zu schützen, die sie in Flammen setzen konnte.
Die Drachen gaben den größten Teil des verbliebenen Lebendigen Steines der Erde, ihren wertvollsten Schatz, für die Errichtung der Kammer, in welche die F’dor eingeschlossen werden sollten. Im Verlauf der Schlacht und der anschließenden Einkerkerung der F’dor wurden den Dämonen die Schuppen abgenommen. Der Stammwyrm war entsetzt über die Entweihung seines Kindes und zog sich sieben ähnliche Schuppen aus der Haut, damit sie den ersten sieben beigegeben und ihre zerstörerische Macht mit den positiven Eigenschaften derselben Schwingungen verbunden wurden, also der höhere Halbton zum niedrigeren kam. Im Verlauf der Schlacht opferte der Stammwyrm sein Leben, indem er das zerbrechliche Gefängnis mit seinem Leib umgab und dabei an sein Ende kam. Dadurch wurde er zur Ummantelung der Kammer, wurde leblos und verlor alles Wissen, das die Dämonen für sich hätten nutzen können. Die sieben farbigen Schuppen wurden von den Seren, die in diesem Kampf den Oberbefehl führten, im Feuerkern der Erde mit jenen verschmolzen, die der Stammwyrm gegeben hatte. Diese Reihe von Schuppen mitsamt der weißen und schwarzen wurden später das Gestohlene Kartenspiel genannt.