Die verbliebenen Eier wurden ausgebrütet und brachten die Fünf Töchter hervor, die bei den Wyrmril als die Wächterinnen bekannt sind, die weiblichen Drachen, von denen jede einen der Weltenbäume beschützte, die an den Orten wuchsen, wo die fünf Elemente zum ersten Mal auf der Welt erschienen waren. Damit die Macht des Gestohlenen Kartenspiels gebrochen würde, erhielt jede dieser Drachinnen eine der Schuppen, die einst Teil sowohl ihrer Schwester als auch ihres Stammwyrms gewesen waren. Die anderen vier Schuppen wurden in die Obhut anderer Wesen in verschiedenen Teilen der Welt gegeben, damit sie so weit wie möglich voneinander entfernt waren. Das ist das, worauf sich die Prophezeiung des Kartenspiels bezieht: Das, was gestohlen ward, wird freiwillig gegeben werden.«
Die drei tauschten einen raschen Blick aus.
»Glaubst du, dass Elynsynos noch eine solche Schuppe besessen hat, als sie … bis jetzt?«, fragte Rhapsody nervös.
»Das hoffe ich doch«, meinte Rath. »Ansonsten wäre sie in anderen Händen, und nur eine einzige Schuppe aus dem Gestohlenen Spiel im Besitz eines bösen Wesens könnte bereits das Ende der Welt herbeiführen.«
»Klasse«, murmelte Grunthor. »Echt klasse.«
»Alles ging gut während des Endes der Vorzeit und bis in das Erste Zeitalter hinein«, fuhr Rath fort, »bis zu dem Tag, an dem ein Stern auf die Erde fiel und die Tiefe Kammer zerschmetterte. Einige F’dor entkamen und stiegen in die Oberwelt auf, gejagt von ihren dhrakischen Bewachern, während andere Mitglieder der vier uranfänglichen Rassen die übrigen F’dor in Gefangenschaft zu halten und die Kammer wieder zu schließen versuchten. Viele Drachen gaben eine Schuppe als eine Art Sicherung, als die Kammer wieder versiegelt wurde. Diese Schuppen besaßen auch die Macht des Farbspektrums, und obwohl sie nicht so kraftvoll wie die Schuppen des Ersten Kindes waren, so waren sie doch stark genug, die verbliebenen F’dor im Zaum zu halten, während ihr Gefängnis wiedererrichtet wurde. Ich weiß nicht genau, wie viele Drachen eine Schuppe abgaben, aber es waren mindestens dreiundvierzig, welche die Reparatur unbeschädigt überstanden hatten. Diese Schuppen wurden wieder eingesammelt, und die Drachen ließen sie in der Obhut der serenischen Anführer, die den Kampf befehligt hatten, falls die Kammer irgendwann noch einmal gesichert werden müsste.
Die F’dor, die in die Oberwelt entkommen waren, suchten nach dem Gestohlenen Spiel und hofften, alle Karten zusammenzubekommen, weil die Reihe von Tönen, die es hervorbrachte, der Wahre Name des Ersten Kindes war und die Bestie zum Erwachen bringen würde, wenn er laut ›ausgesprochen‹ wird. Außerdem suchten sie verzweifelt die schwarze Schuppe, da sie der Schlüssel zur Öffnung der Kammer ist und ihre Kameraden befreien könnte. Wegen der Jagd, die die Dhrakier auf sie machten, konnten sie jedoch nur an eine einzige Schuppe herankommen, die ein F’dor, der sich einen menschlichen Wirt genommen hatte, entdeckt hatte.
Ich habe das Flüstern deines alten Namens gehört, Ysk, als ich nach einem F’dor des jüngeren Pantheons suchte. Ich war auf der Jagd nach einem Dämon namens Krisaar, einem frechen und anmaßenden F’dor, der noch mehr als die übrigen Angehörigen seiner Art der Beherrschung bedurfte, für die diese Wesen nicht gerade berühmt sind. Er überlebte die Vernichtung der Insel Serendair, indem er einen Pakt mit einem ihm ähnlichen Soldaten einging und ihm ewiges Leben für seine Wirtstätigkeit schenkte. Meines Wissens ist dies das einzige Mal in der Geschichte der bekannten Welt, wo ein menschliches Wesen freiwillig einen F’dor in sich aufgenommen hat.«
»Der Atemverschwender«, sagte Grunthor.
»Michael«, flüsterte Rhapsody; es war, als hinterlasse bereits der Name allein einen schlechten Geschmack in ihrem Mund.
»Die anderen Schuppen, die von den Drachen zur Versiegelung der Tiefen Kammer gespendet worden waren, wurden als das Geschenkte Kartenspiel bekannt. Es wurde von den Seren viele Generationen hindurch aufbewahrt; die Macht der Schuppen wurde von den serenischen Sehern und Benennern beschrieben, die sie lesen konnten. Unglücklicherweise kamen sie irgendwann im zweiten Zeitalter in den Besitz einer serenischen Benennerin, die sie katalogisierte. Diese Frau – sie hieß Ave – wurde ein Opfer der einzelnen silbernen Schuppe, des Gefallenen Mondes, der ein Spiegel mit endlosen Reflexionen war und ihren Blick auf die Welt vollkommen verzerrte. Sie behandelte die Schuppen auf eine Weise, die aus ihnen Wahrsagekarten und Karten der Kraft machte, und versteckte sie in ihrem Stamm, wo sie. immer nur in der Hand eines einzigen Lesers blieben. Dieselbe Prophezeiung bezeichnet dies so: Das, was freiwillig gegeben ward, wird gestohlen werden.«
»Daran erinnere ich mich undeutlich aus der alten Welt«, sagte Achmed. »In der Verschlossenen Stadt Kingsten gab es auf dem Diebsmarkt, der seinesgleichen sucht, eine solche Seren-Frau. Es war fast unmöglich, sie zu finden, wenn man sie suchte, aber wenn man sie nicht suchte, traf man vielleicht zufällig in einer Bude oder hinter einem Zelt auf sie. Dann bot sie einem gegen Gold ihre Wahrsagekünste aus einem Kartenspiel an.«
»Hast du dir je die Zukunft voraussagen lassen?«, fragte Rhapsody.
Achmed deutete ungeduldig auf Rath. »Erzähle weiter«, sagte er und beachtete Rhapsody nicht.
»Nach vielen Jahrhunderten traf ein Forscher und Historiker der Nain Sharra, die letzte der großen Leserinnen, die ihm alles über das Spiel sagte. Es wurde für ihn zur Besessenheit, die Schuppen in seine Hand zu bekommen und den Drachen zurückzugeben, die sie gespendet hatten; dafür wollte er von jedem eine Geschichte für das Buch erhalten, das er schrieb. Andere Schuppen aber blieben über die ganze Welt verstreut und waren versteckt, benutzt oder zerstört worden oder in die Hände von Leuten gefallen, die einige von ihnen wieder zusammenführten – zu schrecklichen Zwecken. Eine solche Person war der Dämonenwirt, von dem ich euch vorhin erzählt habe und den ihr Michael nennt. Das Kind, das er mit einer Seren hatte, erbte angeblich die Macht ihres Stammes, die Schuppen zu lesen. Falls dieses Kind noch lebt, könnten jene Teile des Spiels, die sich noch in der Welt befinden, zu unvorstellbaren Schreckenstaten missbraucht werden.«
»Vermutlich ruhen sie auf dem Grund des Meeres«, sagte Achmed.
»Das wäre schön«, meinte Rath dunkel. »Aber nach meiner Erfahrung verschwinden diese Schuppen niemals still und leise. Sie scheinen die bemerkenswerte Fähigkeit zu haben, dort zu bleiben, wo sie den meisten Schaden und die größte Zerstörung anrichten können, als ob der Makel der F’dor noch an ihnen haftete.«
»Wie sehen sie denn aus?«, fragte Grunthor. »Damit wir sie erkennen, wenn sie uns über’n Weg laufen.«
»Die Schuppen sind unterschiedlich groß«, sagte Rath. »Alle sind oval und die meisten an den Rändern leicht ausgefranst. Sie scheinen grau oder farblos zu sein, bis man sie dreht oder ans Licht hält; dann kann man ihre Farbe erkennen. Oft erscheinen sie wie ein Prisma und zeigen so all das Wissen, das in ihnen steckt.
Ich habe nie eine der Karten des Gestohlenen Spiels gesehen. Sie galten als zu heilig und schrecklich, um von anderen als denjenigen gesehen werden zu dürfen, welche die F’dor bewachten. Man hat mir und den anderen Brüdern allerdings die Symbolik jeder einzelnen Schuppe erklärt, damit wir sie erkennen können, wenn wir bei einer unserer Reisen auf sie stoßen sollten. Die weiße Schuppe, eine der beiden mächtigsten und furchtbarsten des Gestohlenen Spiels, trägt angeblich kein in sie eingeritztes Bild. Sie stellt das Leben oder die Schöpfung dar und wird von vielen als Abbild von Gottes Antlitz angesehen. Ihr Gegenpart, die schwarze Schuppe, ist mit dem Bild eines Schlüssels geschmückt, dem entsetzlichen Symbol ihrer Macht, die Kammer selbst zu öffnen. Sie bedeutet die Leere oder Vernichtung. Wie ihr euch vorstellen könnt, hat sie die Macht, beides in unvorstellbarem Ausmaß herbeizurufen.