Выбрать главу

Vor den riesigen Fenstern der Großen Halle heulte ein eisiger Wind und stieß gegen das Glas, bis dieses erzitterte.

Der cymrische Herrscher schaute ihn ernst an, drehte sich dann um und ging hinüber zu einem schweren Wandteppich, auf dem die Abreise der cymrischen Flotten von der untergegangenen Insel Serendair dargestellt war. Er zog den Gobelin beiseite und drückte die Hand gegen einen der Mauersteine. Dunkelheit tat sich auf, als sich ein verborgener Korridor öffnete.

»Erinnerst du dich an diesen Ort?«, fragte er.

Gwydion spürte, wie plötzlich seine Kehle trocken wurde. »Ja«, sagte er. »Gerald Owen hat Melly und mich während des Überfalls auf das Winterfest vor vier Jahren hier versteckt.«

Ashe nickte. »Es ist zwar nicht der perfekte Ort für ein geheimes Treffen, aber es ist der beste, den wir haben, denn er liegt unter der Erde, fern des Windes und aller Ohren, die uns zuhören könnten.« Die senkrechten Pupillen seiner himmelblauen Augen fingen das Licht vom Fenster ein und zogen sich merklich zusammen. Gwydion fragte sich, ob dieser Wandel von mehr als nur vom Licht herrührte. »Beeil dich, Gwydion. Wir stehen vor der schwierigsten Unterredung, die je in der Geschichte dieses Kontinents geführt wurde.«

Der junge Herzog nickte und betrat den dunklen Korridor. Kurz darauf folgte ihm der cymrische Herrscher, der die Tür hinter sich schloss und dadurch sie beide tiefster Finsternis aussetzte.

Einen Augenblick später spürte er ein Knistern in der Luft, und die Wände des dunklen Ganges erglühten von einer Wärme, wie kein wirkliches Licht, sondern nur das Abstrahlen von Hitze sie hervorbrachte. Durch die schwache Beleuchtung konnte Gwydion die grob behauenen Stufen erkennen, die sich in die Schwärze hinunterbohrten, wo, wie er wusste, ein kleiner Raum, kaum mehr als ein Vorratskeller, hinter einer Steinmauer verborgen lag. Der cymrische Herrscher kicherte.

»Vielen Dank, Aria«, rief er in die Finsternis unter sich.

»Es war mir ein Vergnügen, Sam«, ertönte Rhapsodys Stimme. »Pass auf die Stufen auf, Gwydion.«

»Es ist gut zu wissen, dass sie wohlauf genug ist, um von ihrer Feuergabe Gebrauch zu machen und mich immer noch wie ein Kind zu behandeln«, murmelte Gwydion seinem Paten zu, während sie langsam über die Stufen in das Zwielicht hineinschritten. »Sam … Ich habe dich noch nie gefragt, warum sie dich so nennt.«

Der cymrische Herrscher lächelte, sagte aber nichts, sondern folgte der sich windenden Treppe hinunter zu dem unterirdischen Raum. Gwydion erzitterte unwillkürlich unter der Erinnerung, wie er als Dreizehnjähriger an diesem Ort gewesen war und auf seine fünfjährige Schwester sowie eine Hand voll schluchzender, ihm unbekannter Kinder hatte aufpassen müssen. Hier unten hatten sie auf die Nachricht gewartet, ob ihre Eltern den Angriff der Soldaten aus Sorbold auf das Winterfest überlebt hatten, das sie noch vor wenigen Augenblicken gemeinsam gefeiert hatten. Sein Vater hatte überlebt. Gwydion versuchte nicht an die Laute zu denken, die den Kehlen jener Kinder entstiegen waren, deren Eltern nicht so viel Glück gehabt hatten.

Am Fuß der Treppe in die Finsternis hinein wartete Rhapsody auf sie. Zuerst hatte Gwydion geglaubt, dass sich möglicherweise die Hitze in ihrem goldenen Haar verfangen hatte und es selbst in diesen lichtlosen Raum erglühen ließ, doch kurz darauf erinnerte er sich, dass ihre Bezeichnung als Trägerin der Tagessternfanfare, des uralten Schwertes aus elementarem Äther und Feuer, Iliachenva’ar lautete, was in der alten Sprache so viel bedeutete wie jemand, der Licht an einen dunklen Ort brachte. Seine »Großmutter« besaß sicherlich diese Fähigkeit. Als er sie nun hier im Zwielicht nach all den Monaten ihrer Abwesenheit sah, hatte er den Eindruck, dass sogar die stickige Luft von einer plötzlichen, hoffnungsvollen Frische durchzogen wurde.

Vielleicht war es auch nicht Rhapsody selbst, sondern die Gegenwart des winzigen, schlafenden Kindes, das sie in ihren Armen wiegte.

Ashe legte die Hand auf ihre Hüfte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Wolltest du nicht drinnen bleiben?«, fragte er.

»Es hat mir nicht gefallen, wie Achmed und Grunthor Meridion angesehen haben«, erwiderte sie milde und presste das Kind enger an sich. »Sie haben sich andauernd darüber unterhalten, noch kein Frühstück gehabt zu haben.«

Ashe lächelte schwach und öffnete die Steintür, die in der grob behauenen Granitwand verborgen war.

Aus dem Raum dahinter ergoss sich ein beinahe blendendes Licht auf die finstere Treppe. Ein kleiner hölzerner Tisch war zu sehen, auf dem eine große Pergamentrolle lag und um den sich die beiden Firbolg Achmed und Grunthor sowie Anborn, der gereizt wie immer wirkte, und ein Lirin kauerten, den Gwydion rasch als Rial erkannte, Rhapsodys Statthalter von Tyrian, über das sie als Titularkönigin herrschte. Rials Gegenwart führte dazu, dass Gwydion plötzlich die Hände zitterten, denn wenn der lirinische Würdenträger den weiten Weg vom heiligen Wald bis in den Südwesten Rolands zurückgelegt hatte, dann lag unmissverständlich ein Geruch von Blut in der Luft.

»Schnell, kommt herein, ihr alle«, brummte Anborn.

Ashe wich beiseite, um Rhapsody als Erste eintreten zu lassen. Rial erhob sich und verneigte sich respektvoll vor ihr, doch die drei anderen Männer blieben sitzen. Anborn hatte keine andere Wahl, und die Firbolg wollten sich einfach nicht erheben. Als sie in den kleinen, versteckten Raum trat, beugte sich Gwydion taktvoll zu Ashe vor und murmelte ihm ins Ohr:

»Wie ist Anborn ohne seine Gehmaschine oder eine Sänfte hierher gekommen?«

Ashe räusperte sich laut, um seine Antwort vor den anderen zu verbergen. »Er hat dem einzigen anderen anwesenden Blutsverwandten erlaubt, ihn zu tragen«, erwiderte er leise. Gwydion nickte und verneigte sich vor Grunthor, denn er wusste, dass sich Ashes Bemerkung auf ihn bezog. Der Orden der Blutsverwandten war den Soldaten heilig. Es handelte sich um eine Brüderschaft, die tiefer als das Blut ging und durch lebenslanges Soldatentum oder ein großes Selbstopfer erlangt wurde, das vom Wind selbst bestimmt wurde. Rhapsody, Grunthor und Anborn waren die einzigen Blutsverwandten, die Gwydion auf der Welt kannte, auch wenn ihm seine »Großmutter« versichert hatte, dass es noch weitere gebe.

Der Herrscher der Cymrer zog die Steintür hinter sich zu. Im Licht der Laternen konnte Gwydion ihn und die Personen um ihn herum deutlicher erkennen. Trotz ihrer scheinbaren Ruhe hatte Rhapsody die Lippen zusammengepresst, auf Anborns Gesicht lag eine tiefe Röte, und Ashes Schultern waren angespannt und sprachen seiner Gelassenheit Hohn. Gwydion erbebte. Er hatte geglaubt, seine eigenen Neuigkeiten wären die schlimmsten, die die Versammlung sich anhören musste. Doch offenbar brachte nicht nur er schlechte Nachrichten.

Ein Summen unter dem Tisch erregte Gwydions Aufmerksamkeit, und er senkte den Blick. Auf dem Boden lagen Schwerter mit den Spitzen und Griffen gegeneinander in einem sechseckigen Stern. Drei von ihnen erkannte er sofort.

Das erste war die Tagessternfanfare. Flammen leckten über ihre Klinge, und nach wenigen Sekunden begriff Gwydion, dass das Licht im Raum nicht nur von den Laternen, sondern hauptsächlich von dieser Waffe herrührte. Über ihr lag eine schartige, namenlose Klinge, die er schon oft in der Hand Anborns gesehen hatte. Es war eine Waffe, von der er während seiner Übungskämpfe mit dem Marschall schon viele Schläge empfangen hatte. Er zuckte unter der Erinnerung zusammen, als er ihre Spitze nun gegen die historische Waffe gerichtet sah.

Der Griff der Tagessternfanfare stieß gegen ein lirinisches Langschwert mit einem Griff aus Mammutbaumholz. Das musste die Waffe von Rial sein, dem lirinischen Statthalter, dessen Pflicht es war, den Wald von Tyrian zu schützen. Gwydion hatte einige lirinische Schwerter aus der Nähe gesehen und wusste, dass dieses, obwohl es bescheiden aussah, Teil einer der größten und geheimsten Militärmaschinen des Kontinents war, wenn es im Einklang mit Zehntausenden anderen geschwungen wurde.