Der Rest der Schuppen folgt dem Muster der Lichtpalette und bezieht sich auf die Mächte, die ihr bereits kennt. Die rote Schuppe hat einen Tropfen Blut in sich, die orangefarbene Flammen, die gelbe das Bild der aufgehenden oder sinkenden Sonne, je nachdem ob es die konkave Schuppe ist, die aus der Haut des Ersten Kindes stammt, oder die konvexe, die der Welt von ihrem Ahn geschenkt wurde. Die grüne Schuppe zeigt ein Abbild der Erde, entweder klar oder vernebelt, so wie die blaue Schuppe, die das Bild eines Auges trägt, welches von Wolken umgeben oder von ihnen verdeckt ist. Die indigoblaue Schuppe, von der am wenigsten bekannt ist birgt angeblich das Bild eines Kometen, der in den alten Überlieferungen eine überaus wichtige Veränderung bedeutet. Daher rührt ihre Bezeichnung als Nachtabwehrer oder Nachtbringer, was ihre Fähigkeit andeutet, ungeheuerliche Veränderungen entweder zu bringen oder zu verhindern.«
»Ich glaube, genau diese hätte ich jetzt gern«, meinte Rhapsody.
»Wohl kaum«, erwiderte Rath trocken. »Die Macht, die in diesen Schuppen existiert, kann auch jene verletzen, denen es darum geht, die Erde zu retten. Die Geschichte ist voll von Berichten über Leute mit guten Absichten, die durch die Macht dieser Schuppen in die Irre geführt wurden.
Und schließlich ist da noch die violette Schuppe. Auf ihr ist angeblich das Abbild des Throns zu sehen, und sie ist die einzige Schuppe, die nur eine Seite hat. Obwohl der Stammwyrm sieben Schuppen spendete, hat jene letzte Note im Spektrum aus unbekannten Gründen nur einen Ton, ist also weder ein hoher noch ein tiefer Halbton. Sie ist bekannt als ›der Neuanfang‹. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich vermute, dass jeder, der entweder unerwartet oder auf unerklärliche Weise an die Macht gelangt, die Kontrolle über diese Schuppe besitzt oder wenigstens ihre Macht zu seinen Zwecken einsetzen konnte.«
Die drei stießen gleichzeitig die Luft aus.
»Talquist vielleicht«, sagte Achmed.
»Hoffentlich nicht«, meinte Rath.
»Und das Geschenkte Spiel?«, fragte Rhapsody. »Bist du je auf eine Schuppe gestoßen, die daraus stammt?«
Der Dhrakier schüttelte den Kopf. »Ich habe einige von ihnen gesehen«, sagte er, »aber das war, bevor die serenischen Leser sie missbraucht haben. Die einzige silberne war die des Gefallenen Mondes, deren falsche Anwendung es Ave erlaubte, sie überhaupt erst zu entweihen. Ich glaube, es gab je eine Schuppe für jeden der fünf Bäume, die am Geburtsort der Zeit wuchsen: Sagia, der Baum der Sterne, der nun aus der Welt verschwunden ist; Ashra, der Baum des reinen elementaren Feuers; Eucos, auch bekannt als Wolkenfänger, der Baum der lebenden Luft; Frothta, der Baum des Wassers, der unter dem Meer wächst; und natürlich der Große Weiße Baum. Vielleicht existiert sogar eine für Blutdorn, den bösen, rankenartigen Dornbaum, dessen Wurzeln von der Tiefen Kammer ausgehen. Es gibt noch andere, aber ich kenne nur wenige davon: die Vergessene Stadt, die Endlosen Berge, das Goldene Maß, der Geschmolzene Fluss, die Zerbrochene Tafel, die Diebskönigin, das Kind, der Atem, das Sendschreiben, die Zeitenscheren. Diese kenne ich nur, weil ich einmal Abschnitte aus dem Buch allen menschlichen Wissens gelesen habe, das von dem Historiker der Nain stammt, den ich vorhin erwähnte. Ich glaube, es ging vor Jahrhunderten auf dem Meer verloren. Es war mit der Dritten Cymrischen Flotte an das Ufer dieser Welt gelangt, wurde aber beim Schiffbruch vernichtet.
Dieses neue Wesen, das ihr Michael nennt«, fuhr Rath fort, »dieser Mensch und Dämon stieg zu großer weltlicher Macht auf, während die Jahrhunderte vergingen, und er wurde schließlich zum Baron von Argaut, einer der mächtigsten Persönlichkeiten im Schiffshandel auf der anderen Seite des großen Zentralmeeres. Er war es, dem ich gefolgt bin, wodurch ich an diesen Ort hier kam.
Es ist ihm immer wieder gelungen, mir zu entkommen, indem er sich in der Nähe des Wassers aufhielt, was, wie jeder Dhrakier euch sagen kann, der Fluch unserer Existenz ist, wenn wir auf der Jagd sind. Seine Strategie war erfolgreich. Während er im hellen Tageslicht und vor dem Angesicht der ganzen Welt arbeitete, schützte ihn seine dauernde Nähe zum Wasser vor meinem Kimi.
An diesem besonderen Mitglied des Jüngeren Pantheons ist bemerkenswert, dass er schwach ist und Kontrolle braucht, die er über sich selbst nicht ausüben kann. Ob das seine menschliche oder seine dämonische Schwäche ist, kann ich nicht sagen, denn der Mann, den er sich zum Wirt ausgesucht hat, leidet an derselben Schwäche.« Rhapsody erschauerte, denn sie war das Opfer dieser Schwäche gewesen.
»Seine Unzulänglichkeiten nahmen gelegentlich die Gestalt von Fleischeslust an und gipfelten im schrecklichsten all seiner Eroberungsfeldzüge, nämlich bei einer serenischen Frau von uraltem Geblüt, die von der Insel an das Ufer Argauts geflohen war, um der Sintflut zu entgehen. Während sich die meisten F’dor niemals fortpflanzen, weil es sie ihrer Kraft beraubt und ihre Seelen bricht – oder was immer sie an Stelle von Seelen haben –, konnte der Wirt dieses Dämons der Gelegenheit nicht widerstehen, die Frau zu schänden und sie zu schwängern, wobei er vermutlich auch noch großen Gefallen daran fand, die einzige Weisheit zu beflecken, die älter war als seine eigene des schwarzen Feuers, nämlich den Äther. Das Ergebnis war eine unglaubliche Missgeburt, ein Wesen, das unter dem Namen Faorina bekannt war – ein denaturierter F’dor. Von ihnen gibt es nur sehr wenige auf der Welt, nicht nur weil die Dämonen auf ihre Macht eifersüchtig sind, sondern auch weil diese Wesen üblicherweise nicht lange leben. Unangenehmerweise war die Frau, die dieses Kind zur Welt brachte und dabei starb, eine Leserin, eine aus dem Stamm der serenischen Priesterinnen, die mit dem Schutz und der Deutung der Schuppen beauftragt waren. Falls sie einige davon aus der alten Welt mitgebracht hatte, bevor diese in den Wellen versank, dann sind diese Schuppen in die Hände des Mannes gefallen, der sie vergewaltigt hat. Und von ihrem Kind nimmt man an, dass es die Fähigkeit geerbt hat, sie zu lesen.
Ich glaube, dieser Mann hat eine blaue Schuppe benutzt, vielleicht sogar die des Gestohlenen Spiels, um sich vor den Jägern des Windes zu verstecken. Einen Moment lang hatte ich sein Zeichen, seine Schwingung geschmeckt; sie kam von diesem Ort hier. Es war, als hätte er die Schuppe für kurze Zeit verloren. Doch nun bemerke ich nichts mehr von ihm. Eines solltest du wissen, Bolg-König. Als ich auf der Suche nach ihm hergekommen bin, musste ich mir einen Weg durch eine Armada von Schiffen aller Typen bahnen: Piratenschiffe, Kaufmannsschiffe, sogar Kriegsschiffe, die sich zu einer großen Blockade außer Sichtweite der Küste vor dem Westufer deines Kontinents zusammengefunden haben. Ich habe den verdammten Ozean in kaum mehr als einem Ruderboot überqueren müssen, damit ich ihnen nicht auffalle. Aber sie versammelt sich eindeutig. Der Baron von Argaut hat eine beeindruckende Flotte von Handelsschiffen, die er nur erhalten konnte, indem er mit den Piraten gemeinsame Sache macht.« Er hielt inne; der Ausdruck des Entsetzens auf Rhapsodys Gesicht hatte ihn kurz zum Verstummen gebracht.
»Falls also tatsächlich derjenige, den ihr Michael, den Wind des Todes, nennt, einige der Schuppen mit in dieses Land hier gebracht hat und falls sie die Welle überlebt haben, die ihn von der Oberwelt in die Tiefen des Meeres gerissen hat, falls sie sich also jetzt durch eine verrückte Laune des Schicksals in den Händen eurer Feinde befinden sollten, kämpft ihr nicht nur gegen Gier und Machtlust an, die seit Anbeginn der Zeit in allen Menschen stecken, sondern auch gegen einen viel tieferen, bösartigeren, gierigeren und tödlicheren Hass und eine zerstörerische uranfängliche Kraft, die zum Beginn der Zeiten geboren wurde und gegen die es keinerlei Gegenmittel und nichts gibt, womit man sie beschwichtigen könnte.