Und wenn das so ist, dann würde ich sagen, dass diese Aufgabe wie für euch geschaffen ist.«
39
Trug war der Archont, der als ›die Stimme‹ bekannt war.
Die Bolg waren eine neu entstandene Art, halbmenschlich und sowohl primitiv als auch unverwüstlich. In der Zeit, seit der Achmed ihr König war, hatten sie sich von Aasfressern und Kannibalen, die in den zerklüfteten Felsgipfeln ihrer Heimat ein karges Leben führten, zu einer aufstrebenden Nation von Waffenschmieden, Bauern, Zimmerleuten, Handwerkern und Webern dehnbarer Schiffsnetze und feiner Damenunterwäsche entwickelt. Es war ein seltsames Gemisch aus Handelsgütern – ein Handel, der auf vernünftige Weise die Schätze ihres Königreichs aus Bergen, Schluchten und Wäldern mit einzigartigem bläulichem Holz ausbeutete sowie uralten Weingärten, die in der cymrischen Ära angepflanzt und erst vor kurzer Zeit wiederhergestellt worden waren und nun feinsten Wein hervorbrachten.
Achmeds Vision erforderte mehr Unterstützung in der Führung des Landes, als er und Grunthor allein leisten konnten, besonders jetzt, da Rhapsody hergekommen war und einerseits zwar mehr Schutz für die Bolg und das schlafende Erdenkind forderte, andererseits aber den größten Teil ihrer Zeit damit verbrachte, sich um das lirinische Königreich sowie ihre Pflichten als Herrscherin der Cymrer zu kümmern. Daher hatten die drei gewisse Bolg-Kinder ausgewählt, die als besonders klug oder begabt galten – die meisten von ihnen waren Waisen –, die nun auf bestimmten Gebieten ausgebildet wurden, damit sie das Wachstum des Königreiches unterstützten.
Trug war ein solcher Junge. Wie die meisten seiner Art sprach er seine innersten Gedanken nur selten aus. Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern bestand Trugs Ausbildung darin, zum Sprechen befähigt zu sein. Was er jedoch sagte, waren die Gedanken des Bolg-Königs, sowohl innerhalb des Berges als auch außerhalb. Es war seine Bestimmung, als Stimme ausgebildet zu werden, als Archont, von dem König Achmed erwartete, dass er das Reden für die Bolglande besorgte, sowohl offiziell als auch insgeheim. Ihm oblag überdies der Unterhalt der vielen Meilen von Sprachröhren, die durch die Berge liefen und noch aus dem cymrischen Zeitalter stammten. Seine Ausbildung hatte in seiner Kindheit begonnen, vor sieben Jahren. Sehr jung war er von Rhapsody ausgewählt worden, weil er die für seine Aufgabe nötigen Eigenschaften besaß, und systematisch hatte man ihn mit Sprachwissenschaft, der Kunde der Geheimschriften, Anatomie und tausend anderen Studienfächern der mündlichen und sonstigen Mitteilungskunde vertraut gemacht. Vor mehr als einem Jahr war er als würdig erachtet worden, die Aufsicht über den Briefvogelschlag mit seiner großen Anzahl von Botentieren zu erhalten und auch den berittenen Boten vorzustehen, die mit den Postkarawanen ritten. Kurz danach hatte er die Verantwortung für König Achmeds Netzwerk von Botschaftern und Spionen übertragen bekommen.
Nun war er einer von Achmeds geschätztesten Archonten. Wenn daher seine Stimme durch die Sprechröhre in das Planungszimmer des Bolg-Königs innerhalb des Thronssaales vom Canrif drang, wurde sie fast immer sofort in dem rauen Ton beantwortet, den die Bolg so gut kannten und so sehr fürchteten.
»Euer Majestät?«
Achmed, Grunthor und Rhapsody sahen einander überrascht an. Trug hatte eine formelle Anrede gewählt, die normalerweise andeutete, dass jemand von außerhalb der Berge eingetroffen war.
»Was ist los?«, wollte Achmed wissen.
»Hier ist ein Besucher für Euch, Herr«, antwortete die dünne, unangenehme Stimme.
»Wer immer es ist, sag ihm, er soll sich fortscheren«, gab Achmed zurück;. Seit sie nach Canrif zurückgekehrt waren, hatten sie in der Abgeschiedenheit des Hinterzimmers über Plänen gebrütet, und die Stimmung des Königs war inzwischen überaus schlecht.
»Er ist schon seit einiger Zeit hier, Herr.« Trugs Stimme hallte durch das Rohr, und kurz darauf folgte ihr eine andere Stimme.
»Sag dem Bastard, dass ich ihn sofort sprechen muss«, ertönte es. Die Stimme klang zwar bekannt, war aber nicht sofort zuzuordnen. »Ich warte jetzt schon mehr als zwei Wochen an diesem verdammten Ort und werde keinen Moment länger hier bleiben.«
Achmed schloss das Sprachrohr. »Was glaubt ihr, wer ist das?«, fragte er.
Rhapsody hatte mit gerunzelter Stirn gelauscht. »Das klingt ein wenig nach Faedryth, dem Nain-König«, meinte sie unsicher. »Aber was sollte der hier zu suchen haben?«
Achmed öffnete das Rohr wieder. »Sag diesem ekelhaften Warzenschwein, dass er von mir aus noch mal zwei Wochen warten kann«, meinte er mürrisch. »Oder auch den ganzen Rest seines unnatürlich langen Lebens. Ich bin beschäftigt.«
Eine Reihe hässlicher Worte, gesprochen mit gutturaler Stimme und in einer unbekannten Sprache, rumpelte zur Antwort durch das Rohr.
Rhapsody nickte. »Ja, das sind Nain-Flüche«, sagte sie. »Vermutlich ist es Faedryth.«
»Was will der hier?«, fragte Grunthor. »Sein Königreich liegt doch mehr als zwei Wochen weg und ist auf dem normalen Landweg nich’ erreichbar. Ich erinner’ mich an nichts, weswegen er Grund hätte, in dieser Gegend zu sein.«
»Ich schätze diese Nain gar nicht«, sagte Achmed und studierte die Pergamentrolle vor ihm. »Als sie zum Konzil im Gerichtshof hier waren, haben sie viermal so viel wie die anderen Völker verspeist. Ich bin nun endlich nach Hause gekommen und habe keine Lust, jetzt gleich einen schleimigen Tölpel wie Faedryth zu bewirten.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, meinte Rhapsody. »Faedryth ist dein und mein Verbündeter. Jetzt ist nicht die Zeit, unfreundlich zu Mitgliedern des Bündnisses zu sein, besonders nicht zu denjenigen, die dir keinen Schaden zufügen und dich nicht beleidigen. Wenn übrigens Höflichkeit ein Erfordernis bei Staatsbesuchen in unserem Reich wäre, dann hätte dich noch niemand empfangen.« Sie drückte ihn vom Sprachrohr fort. »Schick Seine Majestät sofort herauf, Trug.«
Achmed sah sie böse an und kehrte zum Plan des Lichtfängers zurück, den Rhapsody gezeichnet hatte.
Nach erstaunlich langer Zeit erschien der Archont mit dem Nain-König im Schlepptau. Die beiden Bolg beachteten ihn nicht, doch Rhapsody stand sofort auf und ging quer durch den Thronsaal, der vor mehr als tausend Jahren in der Blüte des Kunsthandwerks in Gwylliams Reich entstanden war. Er war reich mit Mosaiken geschmückt und mit den feinsten Marmorplatten aus den Manteiden verkleidet.
»Euer Majestät«, sagte sie freundlich, »welch eine Freude, Euch zu sehen! Welchem Umstand verdanken wir die Ehre Eures Besuchs?«
Die gewaltige Wut, die sich in die Stirn des Nain-Königs eingegraben hatte, wich ein wenig in Rhapsodys Gegenwart.
»Ich hatte nicht erwartet, Euch hier anzutreffen, Herrin«, sagte Faedryth. Er trug lederne Kleidung und Stiefel, die von höchstem handwerklichem Können zeugten, hatte aber keine Insignien seines Rangs angelegt. Sein wunderbarer Bart zeigte Anzeichen von Vernachlässigung und weiter Reise, und in seinen Händen hielt er in festem Griff einen samtenen Sack. »Ich war der Meinung, Ihr wäret sicherlich in dem neuen Heim, von dem Euer Gemahl mir geschrieben hat. Wisst Ihr, er suchte meinen Rat im Hinblick auf das Festungswerk.«
»Ja, in der Tat. Er beharrte darauf, dass die Fallen und Verteidigungsanlagen der Nain es sehr sicher machen würden.«
»Zweifellos«, stimmte Faedryth. »Und dennoch finde ich Euch hier, im Land eines Mannes von zweifelhafter Weisheit, anstatt in der Sicherheit des Heims Eures Gemahls.« Er warf einen Blick auf ihren vorgewölbten Bauch. »Ich entbiete Euch sowohl meine Glückwünsche als auch mein Mitgefühl, da ich selbst Vater bin, Herrin. Ich hatte nicht gehört, dass Ihr guter Hoffnung seid.«
Rhapsody räusperte sich. »Ja«, sagte sie.
»Nun denn, ich schlage vor, dass Ihr Euch sofort zur Hohen Warte begebt. Zu dieser Zeit ist hier kein Kind und auch niemand sonst sicher, der von irgendeinem Wert ist.«
»Was schwatzt Ihr da für einen Mist?«, meinte Achmed verärgert. »Ich habe Euch nicht eingeladen. Ihr seid ohne einen guten Grund für Eure Gegenwart nicht willkommen, und doch seid Ihr hier und beleidigt mich. Was wollt Ihr?«