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»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie.

40

Der letzte Ort, an den Achmed den Dhrakier mitnahm, waren die Ruinen des Loritoriums, des unvollendeten Ortes, an dem Gwylliam die Artefakte des uralten Wissens aus seiner Sammlung hatte aufbewahren wollen. Es war tief im Bauch der Berge am Ende eines Tunnels erbaut worden, dessen einziger Zugang sich in den Gemächern des Bolg-Königs befand.

Der Grund dafür bestand in dem Altar aus Lebendigem Stein in der Mitte des unvollendeten Raumes, auf dem das Schlafende Kind lag, das mittlere Kind aus der Prophezeiung.

Er und Rath standen über seinem Katafalk und schauten auf es hinunter. Das Wesen war so groß wie ein erwachsener Mensch, hatte das Gesicht eines Kindes und eine kalte, graue, wie poliert wirkende Haut, als wäre es aus Stein gemeißelt. Wenn da nicht sein langsamer Atem gewesen wäre, hätte man wirklich glauben können, es wäre eine Statue.

Unter der Oberfläche der hauchdünnen Haut war das Fleisch dunkler und zeigte matte Schattierungen aus Braun und Grün, aus Purpur und Dunkelrot, die wie dünne Fäden aus farbigem Ton ineinander verschlungen waren. Seine Züge waren sowohl grob als auch glatt, als ob das Gesicht zuerst mit stumpfen Werkzeugen gemeißelt und dann sorgfältig ein ganzes Leben lang poliert worden wäre. Unter der derben Stirn befanden sich Brauen und Wimpern, die wie aus trockenen Grashalmen gewirkt zu sein schienen und zu dem langen, körnigen Haar passten. Im schwachen Licht glichen die Locken Weizen oder gebleichtem Steppengras; sie waren zu einer gleichmäßigen Länge geschnitten und zu zarten Zöpfen geflochten worden. Die Haarwurzeln an der Kopfhaut waren grün wie das Gras im Vorfrühling.

Achmed erinnerte sich daran, wie er dieses Kind zum ersten Mal gesehen hatte und was die Frau, die sich um es gekümmert hatte – die letzte Überlebende einer nahen dhrakischen Kolonie, die Großmutter genannt worden war –, ihm über es berichtet hatte.

Sie ist ein Kind der Erde, geformt aus Lebendigem Stein. Bei Tage und bei Nacht, zu allen Jahreszeiten schläft sie. Sie war schon vor meiner Geburt hier. Ich bin verpflichtet, sie zu bewachen, bis der Tod mich holt. So muss es auch bei dir sein.

Er hatte sich diese Worte zu Herzen genommen, vermutlich mehr als alles andere in seinem Leben.

»Sie ist viel kleiner und sieht kränker aus als bei meinem letzten Besuch hier«, sagte Rath.

»Der Herrscherbastard, den es nach Krieg gelüstet, hat den letzten verbliebenen Lebendigen Stein in einer Basilika in Sorbold namens Terreanfor geerntet.« Rath nickte; er kannte den Ort gut. »Vielleicht fordert das einen Tribut von ihr.«

Rath nickte erneut und schwieg weiter. Er folgte dem Bolg-König zurück in den oberen Berg zu einem hochgelegenen Tunnel, der die gewaltige Schlucht überblickte, welche den Hauptteil Canrifs von der verdorrten Heide trennte.

Der Wind heulte durch den Tunnel und sang ein Klagelied. Der Bolg-König und Rath setzten sich auf den Boden bei der Öffnung des Schachtes, schauten nach Westen und beobachteten, wie die Sonne ihr Licht blutgleich über das Vorgebirge, die Steppe und die weiten Krevensfelder ergoss.

Schweigend saßen sie da und erwarteten den Sonnenuntergang, bis Achmed schließlich sprach.

»Erzähle mir von den F’dor und denjenigen, die sie bewachen«, sagte er. »Ich weiß nur das, was Pater Halphasion mir beigebracht hat. Aber da er nicht an der Jagd teilnahm, konnte er mir nur sehr wenig sagen, also habe ich den Blutdurst in meinen Adern mein ganzes Leben lang verständnislos mit mir herumgeschleppt.«

Rath schaute hinunter in die zerklüftete Schlucht, in der tiefe Spalten die Reste des Sonnenlichts eingefangen hatten.

»Es gibt zwei Gruppen von Bestien: das Ältere Pantheon und das Jüngere. Sie sind nichts gesichtslos, sondern haben jeder eine einzigartige Persönlichkeit. Jeder hat Stärken, gegen die man sich wappnen muss, und Schwächen, die man sich zunutze machen kann. Wir kennen jeden Einzelnen, denn sie alle leben schon seit der Dämmerung der Schöpfung – und sie haben sich nicht fortgepflanzt, zumindest zum größten Teil nicht.

Die Dämonen des Älteren Pantheons wurden aus dem Feuer geboren, das während der Schöpfung auf der Oberfläche der Erde brannte. Die des Jüngeren Pantheons stammen aus den Flammen, die kurz danach in den Erdkern herabgesunken sind. Die Jüngeren sind bösartiger, denn sie kennen nur das befleckte Feuer, das Element, welches zerstört und verzehrt. Die Älteren hingegen hatten Zugang zu einem anderen Weg, den sie jedoch nicht gewählt haben. Bei ihrer Zeugung sahen sie den Himmel, die Sterne, das Universum und seine Unendlichkeit, aber sie zogen es vor, das reiche Leben um sie herum zu verachten, und warfen sich stattdessen auf die Leere. Sie wussten um die schöpferische und positive Kraft des Feuers – um die Wärme, das Licht, das Schmelzen von Stahl, das Kochen von Nahrung und das Ausbrennen von Krankheiten –, doch sie schenkten all dem keine Beachtung und benutzen es nur, um zu quälen und zu zerstören. Diese freiwillige Wahl ist der Grund dafür, dass das Ältere Pantheon als so viel schlimmer angesehen wird.

Das Ältere Pantheon hat das Ei des Stammwyrms gestohlen, das Jüngere die Schuppen. Beide sind böse, habgierig und wollen Vernichtung um jeden Preis; so steht es um jene, welche die Leere anbeten. Es ist ihnen egal, dass ihre Taten auch den Untergang ihrer eigenen Rasse herbeiführen werden. Unsere Hoffnung ist lediglich, dass wir ihnen dabei helfen, ohne dass sie uns und den Rest der Welt mit sich reißen.«

Achmed nickte und schwieg für lange Zeit. Als er schließlich sprach, lag in seiner Stimme weder die übliche Anmaßung noch die gewöhnliche Schärfe.

»In den Ruinen von Kurimah Milani hast du gesagt, ein Mann könnte jedes lebende Exemplar des Bienenschwarms vernichten, wenn er mit einem Feuer in ihre Höhle geht. Dann hast du darauf angespielt, dass es sich mit einer anderen Höhle genauso verhielte. Ich sagte dir, dass ich Rätsel verabscheue. Sag es offen heraus: Was willst du von mir?«

Rath sah ihn an und schaute dann wieder über die tiefe Schlucht zu der Stelle, wo das Licht der untergehenden Sonne die verdorrte Heide in den Farben des Feuers badete.

»Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass du für die Bolg ein verdorbenes und unsauberes Halbblut unter Bastarden warst, das in ihren Augen nur wenig wert war. Wegen der Wunden aus deiner Vergangenheit hast du angenommen, dass das Blut deines unbekannten Vaters dich auch der Wertschätzung der Blutsverwandten beraubt hätte, aber ich sage dir – und der Wind ist mein Zeuge –, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Für die Wächter und all die Brüder, die dich seit deiner Zeugung gesucht haben, bist du ein ganz besonderes Wesen und ein wertvolles Geschenk für unsere Art. Du bist es, der schließlich die Waage zu unseren Gunsten ausschlagen lassen könnte. Wir haben nicht nach dir gesucht, um dich zu foltern oder zu missbrauchen oder gar die Art von deinem Blut zu reinigen, sondern weil wir dich brauchen. Du bist im wahrsten Sinne des Wortes unsere letzte Hoffnung.« Rath lächelte, als er den Ausdruck völligen Unglaubens auf Achmeds Gesicht sah.

»Du allein bist geboren von Wind und Erde, Bolg-König«, fuhr er fort. »Während wir bei unserer endlosen Wache die Tunnel und Schluchten der Unterwelt durchschreiten, sind wir doch Fremde dort – und das wissen die Dämonen genau. Sie begreifen, was unser Opfer uns kostet und wie sehr der Wind in unserem Blut es hasst, in der Erde gefangen zu sein, für immer getrennt vom Element der Luft. Selbst in ihrem Gefängnis lachen sie uns noch aus, denn wir sind in jeder Hinsicht genauso Gefangene wie sie.

Doch in deinem Blut ist die Erde so stark wie der Wind. Du besitzt ein uranfängliches Band zu ihr, das weder die Blutsverwandten noch die Unausgesprochenen haben. Du hast dort Macht und eine körperliche Gestalt, die vom Element der Erde beschützt wird, das dir von deinem Vater geschenkt wurde. Du würdest vom Lebendigen Stein der Tiefen Kammer geleitet, falls du dich entscheiden solltest, sie zu betreten.«