Achmed spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Tief in seinem Blut reizten die Worte ihn; sie nährten den dunklen Hass seines Volkes, den er auf sich trug. Doch noch behielt Unsicherheit die Oberhand.
»Ich bin kein Wächter«, sagte er. »Ich bin nur zur Hälfte vom Blut der Brüder – und was die andere Hälfte in mir ausmacht, hat mich erzogen, wenn man das, was ich genossen habe, überhaupt so nennen kann. Ich kenne eure Überlieferungen und Prophezeiungen nicht und nicht eure Geschichte. Meine Fähigkeiten sind begrenzt und schwach. Wenn ich eine Blutgabe erhalten habe, die es mir erlaubt, den Herzschlag jedes Wesens aufzuspüren, das von derselben Erde stammt wie ich, dann ist das nur eine Gabe der Oberwelt. Jedes Mal, wenn ich einem aus dem Pantheon gegenüberstand, brauchte ich Hilfe, um meine Aufgabe zu vollenden. Ohne diesen Beistand wäre ich jetzt entweder tot oder selbst besessen.«
Die silbernen Pupillen von Raths Augen dehnten sich, als das Licht über der Steppe verblasste. Er richtete den Blick auf Achmed, als wolle er seinen Worten zusätzliches Gewicht verleihen, und sagte:
»Was du nicht weißt, ist dieses: Du könntest allein durch die Tiefe Kammer gehen, und wenn du an ihr Ende kämest, würde in der Stille nur dein geflüsterter Name hallen.«
»Ich glaube, du überschätzt meine Fähigkeiten als Mörder«, erwiderte Achmed. »Die Antwort auf die Frage, die du mir in der Höhle gestellt hast, lautet so: Obwohl es nicht immer so war, bin ich jetzt eher König als Mörder. Meine ursprüngliche Aufgabe ist es, das Erdenkind und die Erde zu beschützen, nicht um der alten Feindschaft mit den F’dor, sondern um ihrer selbst und um derer willen, die auf ihr leben. Und auch um meiner eigenen selbstsüchtigen Ziele willen. Es ist, wie du vorhin gesagt hast, ein oberweltlicher Ruf. Also bin ich ein König, obwohl du mich nicht als solchen ansähest, wenn du mich besser kennen würdest.«
Der dhrakische Jäger schüttelte den Kopf.
»Es steht mir nicht zu, dich zu beurteilen. Du bewachst das Schlafende Kind. Ein König mit Voraussicht, aber ohne Mut und Gnade hätte es zerschmettert, ihm die Rippen gebrochen und alle möglichen Schlüssel zerstört. Dann würde niemand mehr die Tür durchschreiten können. Nein, welchen Ruf du auch immer haben möchtest, ich weiß, was für ein König du bist.«
»Erzähle mir vom Älteren Pantheon«, bat Achmed, den inzwischen die Neugier gepackt hatte. »Was weißt du über die ältesten F’dor? Wie lauten die Namen derer, die du jagst?«
Rath zog einen kleinen Dolch aus der Kalbslederscheide und fuhr mit ihm nachlässig über die Tunnelwand. »Den ganzen Namen zu sagen, ist selten möglich. Es wäre, als ob man einen Wasserfall bezeichnen möchte, indem man seinen Rhythmus nachahmt, bis man diesen von jedem anderen Wasserfall unterscheiden kann. Wie lange würde das dauern? Den ganzen Frühling? Ein Jahr? Diese Rasse ist nicht durch die Bewegung der Zunge gebunden und auch nicht durch den Ablauf der Zeit. Sie wurde sozusagen ganz geboren. Ihr Wachstum hängt nicht von den Jahren, sondern vom Brennstoff ab; ihre Erfahrung und Stärke bemisst sich nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Seelen.
Dennoch müssen wir sie benennen, um sie zu rufen, zu fangen und zu zählen. Es gibt nur wenige von uns, die allmählich mit der Liste zurechtkommen. Ich werde dir so viel von den Namen verraten, dass es in deine Ohren dringt, aber für den Wind wird es nicht reichen. Hrarfa ist einer derjenigen, die ich suche. Sie ist eine wispernde Flamme, wie Weihrauch, manchmal schwelt sie, ist mehr Geruch als Flamme, wie ein Leuchtfeuer oder bisweilen auch ein Irrlicht, das mit falschen Versprechungen lockt. Sie ist die Lügnerin aller Lügner.
Dann ist da Hnaf, der Spuckende, beinahe Nasse, der sich in der Nähe des Wassers heimisch fühlt, sich bei ihm versteckt und vorgibt, fast erloschen zu sein. Dem geringen Wissen zufolge, das wir über die Insassen der Tiefen Kammer haben, misstraut ihm sogar seine eigene Art, denn er ist von einer niedrigen Boshaftigkeit besessen. Der Ausgestoßene der Ausgestoßenen.
Einige verfolgen wir anhand der menschlichen Hüllen, die sie zurücklassen. Der gierige Ricken lauert am Rande des Waldes ahnungslosen kleinen Leuten auf, klein sowohl an Gestalt als auch an Geist. Dieses Wesen – wir kennen sein Geschlecht nicht – zieht es vor, so viele Menschen wie möglich zu verzehren: Bauern, Hausmütterchen, beschränkte Arbeiter. Es nimmt sich keine wertvollen Opfer und mästet sich nicht an Ehrgeiz und Angst. Es ist der Vielfraß.
Einige sind keck, sogar tapfer und haben das Bannritual überlebt. Die Jäger des Gefängnisses gewinnen nicht immer. Wie die Bolg oder die Menschen reden die F’dor in der Stunde ihres Untergangs. Manche knurren, manche betteln, manche versuchen zu handeln, einige weinen sogar. Doch man darf sich von ihnen nicht täuschen lassen. Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass sie so denken und fühlen wie du. Jeder Einzelne ist anders, wie ein Dorf aus Kerzen oder ein Hang aus Feuerzungen. Das ist alles, was sie mit uns gemein haben: Sie betteln, sie handeln, sie weinen, weil sie uns schon so lange jagen, weil sie uns gesehen haben – weil sie in uns gewesen sind. Sie kennen diese Schlüssel zur menschlichen Seele und manipulieren sie, doch sie selbst sind immun gegen solche Gnadenersuche. Und manchmal waren ihre Täuschungen erfolgreich, sogar bei den Wächtern.
Außer ihnen haben nur wenige die Gabe, die F’dor zu sehen, denn ihre Natur ist die des Versteckens, wie bei uns. Der Nain-König hat Linsen geschliffen, um das zu sehen, was verborgen ist, doch keine hat sich als wirksam dabei erwiesen, etwas zu entdecken oder vorherzusagen. Ich glaube, es wird nicht lange dauern, dass er sich wünscht, einen F’dor einzufangen, damit er ihn studieren kann. Der Nain-König ist groß und gelehrt und sehr alt, und er wird auf dieses Wesen starren, dass nicht eigentlich ein Wesen ist, sondern nur ein Ding, und er wird nicht erkennen, dass es ihn ebenfalls anstarrt.«
»Er ist ein Narr«, sagte Achmed. »Und er wird den Wyrm eher wecken als ich.«
Rath schüttelte den Kopf. »Er ist ein Verbündeter, und in dieser Schlacht wirst du jeden Verbündeten aus der Oberwelt brauchen, den du bekommen kannst. Es war ein Fehler, ihn zurückzuweisen, Bolg-König. Du erträgst ihn besser als deinen närrischen Verbündeten denn als deinen weisen Feind.«
»Er würde den Bolg in Zeiten der Not nie beistehen. Es sähe den Nain ähnlich, sich einfach in ihre Berge zurückzuziehen und dort auszuharren, selbst wenn der Rest der Welt auseinander fällt. So war es am Ende des Cymrischen Krieges, und so wird es auch jetzt wieder sein. Es ist also egal, ob er mein Verbündeter oder mein Feind ist. Er wird auf dieselbe eigensüchtige, sich abgrenzende Art und Weise wie immer handeln. Er ist halt so eine Art König. Und wenn er der Meinung ist, dass er sein Volk so am besten schützt, dann kann ich es ihm nicht verdenken – aber ich muss nicht auch noch seine dämlichen Forderungen erfüllen.«
Rath zuckte die Schultern. »Entweder du bist ein Mörder, oder du bist ein König«, sagte er, schloss die Augen und genoss es, wie der Wind über sein Gesicht fuhr. »Ein König muss solche Dinge erdulden, ein Mörder nicht.« Achmed schwieg darauf.
Als die Brise auffrischte, öffnete der Dhrakier aus Gewohnheit den Mund und sang seine Liste heraus.
Hrarfa, Fraax, Sistha, Hnaf, Ricken.
Der Wind drehte sich und blies nun von Norden.
Raths Mund war von Feuer erfüllt, in seiner Kehle brannte ätzendes Blut.
Er hatte die Spur eines F’dor aus dem Älteren Pantheon aufgeschnappt.
Hrarfa, flüsterte er. Das Wort sank ihm bis ins Herz und verankerte sich in seinen Blutgefäßen.
Nun schlug es im Rhythmus eines anderen Herzen, das weit entfernt war.
Rath taumelte auf die Beine; sein Gesicht war vor Erregung und Schmerz verzerrt.
»Hast du eine Spur gefunden?«
Der Dhrakier nickte.