Elizabeth Haydon
Tochter der Zeit
Weil er Rhapsody in Lockenwicklern und mit Gesichtspackung erlebt und das Manuskript nicht einfach zugeschlagen hat, weil er bereit ist, Risiken einzugehen, die andere nicht wagen würden, weil er sich weigert, weniger als mein Bestes zu akzeptieren, und weil ihm dieses Buch genauso viel bedeutet wie mir, widme ich es in Dankbarkeit und Zuneigung James Minz, dem Visionär, Herausgeber, Freund
Ode
Gesang des himmlichen Webstuhls
Klagelied des Webers
Erster Faden
Der Kettfaden
Das Licht der Hafenfackeln flackerte auf den Wellen und strahlte in den Nachthimmel ab; es war eine schwache Nachahmung des zunehmenden Mondes, der beharrlich über dem Ende des Kais hing und immer wieder von den Wolken verschluckt wurde, die auf dem Wind vorübersegelten. Bis tief in die Nacht hatten Dutzende noch dunklerer Gestalten geflucht, geschwitzt und ausgespuckt, hatten endlos lange in die Eingeweide der Schiffe hineingelangt, die aufgereiht an der Mole lagen, und ihnen ihre Schätze in Gestalt von Fässern, Truhen und losen Ballen entrissen, welche für den Markt in Ganth bestimmt waren. Sie hatten die Waren grob auf die Wagen oder Zugschlitten geworfen, wobei sich ihre Muskeln vor Anstrengung gespannt hatten, und dabei so manchen Fluch gemurmelt. Die Zugpferde hatten das Herannahen des Nachtregens gespürt; sie hatten in ihren Geschirren getänzelt und sich vor dem Donner gefürchtet.
Als im Hafen endlich Ruhe einkehrte, waren die Fackeln heruntergebrannt, und es herrschte nur mehr das Licht des hartnäckigen Mondes. Quinn tauchte aus dem Bauch der Corona auf und ging die Landebrücke entlang. Mehrmals schaute er hinter sich, bis er die Pier erreicht hatte. Die Hafenarbeiter hatten sich an wärmeren, lauteren Orten zu der Mannschaft des Schiffes gesellt und tranken sich nun zweifellos in Kampfeslust oder angenehme Besinnungslosigkeit. Am nächsten Morgen würde in ihren Quartieren sicherlich ein feiner Gestank herrschen. Doch der Geruch von Darmgasen und saurem Erbrochenen war angenehm im Vergleich zu dem, was Quinn am Ende des dunklen Kais erwartete.
Quinn hatte schon immer gute Augen gehabt. Er hatte den Seemannsblick, der den endlosen Horizont nach jeder winzigen Veränderung in der wässerigen, grau-blauen Monotonie absuchte; er konnte aus dem Krähennest gegen die Sonne eine Möwe von einer Seeschwalbe aus einer Entfernung unterscheiden, welche seine Mitmatrosen immer wieder verblüffte. Dennoch traute er bei den letzten Schritten auf diesem Gang seinen Augen nicht, denn die Person, der er entgegenging, schien sich andauernd zu verändern.
Quinn war sich nicht sicher, doch es schien, als werde der Mann dicker und fester; seine langen, dünnen Finger setzten Fleisch an, die Schultern reckten sich unter dem gut geschneiderten Mantel. Quinn glaubte, ein blutiges Glitzern in den Augenwinkeln des Seneschalls gesehen zu haben, doch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass er sich getäuscht hatte. Die Augen waren von klarem Blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel und ohne jede Spur von Rot. Die Wärme dieses Blicks reichte beinahe aus, um die Kälte zu vertreiben, die unweigerlich wie eine schlüpfrige Schlingpflanze durch Quinn kroch, wann immer sich die beiden Männer begegneten.
»Willkommen, Quinn.« Die Wärme in der Stimme des Seneschalls passte zu seinem Blick.
»Vielen Dank, Herr.«
»Ich gehe davon aus, dass deine Reise erfolgreich war.«
»Ja, Herr.«
Der Seneschall würdigte ihn immer noch keines Blickes, sondern starrte auf die Wogenkämme unter der Pier. »War sie es?«
Quinn schluckte; plötzlich war seine Kehle trocken geworden. »Ich bin mir so sicher wie nur möglich, Herr.«
Schließlich drehte sich der Seneschall ihm zu und schaute nachdenklich auf ihn herab. Nun bemerkte Quinn es: den Geruch – den schwachen, fauligen Gestank von brennendem menschlichen Fleisch. Er kannte diesen Duft sehr gut.
»Woher willst du das wissen, Quinn? Ich will nicht vergeblich um die ganze Welt segeln. Ich bin sicher, du verstehst das.«
»Sie trägt das Medaillon, Herr. Es ist ein ganz schäbiges Stück im Vergleich zu all ihren anderen Juwelen.«
Der Seneschall betrachtete Quinns Gesicht und nickte dann schwach. »Nun gut. Ich vermute, es ist an der Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.«
Quinn gab ein benommenes Nicken zurück und merkte kaum, dass inzwischen Regentropfen die Planken nässten.
»Vielen Dank, Quinn. Das ist alles.« Wie in überschwänglicher Zustimmung wallte die wogende Welle der Hitze durch die Docks und wurde einen Augenblick später vom Rumpeln des fernen Donners untermalt. Der Seemann verneigte sich rasch, drehte sich um und eilte zurück zur Corona und zu seinem winzigen, dunklen Loch im Unterdeck.
Als er die Landebrücke erreicht hatte und zurückschaute, war die Gestalt wieder zu einem Teil des Regenwindes und der Dunkelheit geworden.