Zwei Tage vor Sepulvarta bemerkten Ashe und Grunthor das hohe Minarett, das als »der Turm« bekannt war. Es handelte sich um ein schlankes Bauwerk, eine der größten architektonischen Errungenschaften der cymrischen Ära, entworfen und erbaut von einem Vorfahren Stephen Navarnes. Am Fuß breit wie eine ganze Stadtstraße, lief es tausend Fuß über dem Boden in einer Nadelspitze aus, die mit einem silbernen Stern bekrönt war, dem Symbol des Patriarchats. Es hieß, dass die Spitze ein Stück reinen elementaren Äthers aus einem gefallenen Stern enthielt, der nun hoch oben über dem Turm strahlte und die Basilika darunter mit dem mächtigsten der fünf Elemente weihte, das überdies den Weg in die Stadt beleuchtete.
Der Turm glänzte in der klaren, abendlichen Sommerluft wie ein Stern, der an die Erde gebunden war. Am Morgen des fünften Reisetages erreichten die beiden Männer die Außenbezirke der heiligen Stadt. Sie hatten den größten Teil des Weges zwischen den Pferdewechseln querfeldein zurückgelegt, doch nun nahmen sie die nord-südliche Straße, die zum einzigen Eingang der mit hohen Mauern versehenen Stadt führte. Grunthor stieg widerstrebend ab, als sie die Straße beinahe erreicht hatten, und schüttelte den Kopf beim Anblick der Menschenmassen, die auf ihr reisten. Es waren Pilger und Bettler, Kaufleute und Geistliche, die von und nach Sepulvarta unterwegs waren.
»Die ganze Zeit, die wir gespart haben, geht uns wieder verloren, wenn wir das nicht umgehen«, brummte er zu Ashe, der gerade die beiden Packpferde fütterte, die sie mitgenommen hatten und von denen eines den Leichnam des Bogenschützen trug.
In den letzten Tagen hatten Erscheinung und Benehmen des cymrischen Herrschers gelitten. Sorgenfalten hatten sich um die Augen gegraben, und Haar und Gesicht, ungekämmt und unrasiert, waren nun wieder hinter dem Nebelmantel verborgen, den er so viele Jahre lang getragen hatte, als er ein Gejagter gewesen war.
»Was schlägst du vor?«, fragte er verbittert und mit geteilter Enttäuschung in der Stimme. Der Sergeant dachte kurz über diese Frage nach. Dann deutete er mit dem Kopf auf die Pferde.
»Wir binden sie am nächsten Pfahl fest, an dem wir vorbeikommen«, sagte der Riese. Eine halbe Meile später kamen sie zu den Hütten der Postkarawane, wo der Konvoi lagerte, Botschaften und Vorräte entgegennahm und die Wachen wechselte. Ashe zeigte auf die schweren Metallstäbe vor den Hütten.
»Sind die in Ordnung?«
»Jawoll.«
Die beiden Männer banden die Tiere an. Ashe deutete auf die Quelle.
»Ich hole Wasser.«
»In Ordnung«, meinte Grunthor und beschirmte die Augen, während er beobachtete, wie die noch immer anwachsende Menge der Reisenden die Straße in die heilige Stadt verstopfte. Sobald sich die Männer und die Pferde erfrischt hatten, machte sich Ashe daran, die Tiere abzuladen.
»Warte«, riet Grunthor ihm.
»Warum?«, fragte Ashe.
»Willst du schneller da sein?«
»Ja.«
»Dann halt dir die Ohren zu, Söhnchen.«
Ashe öffnete den Mund und wollte fragen, was Grunthor vorhatte, doch bevor er dazu kam, warf der Bolg-Riese den Kopf zurück und schrie. Es war ein ohrenbetäubender und die Eingeweide zerfetzender Schrei, der Panik bei Mensch und Tier verursachte. Ashe hatte vergessen, dass Rhapsody ihm diesen Schrei einmal beschrieben hatte, den Grunthor immer dann anwendete, wenn es nötig wurde.
Die wirbelnde Masse der Reisenden geriet in Panik, die Pferde bäumten sich auf, sprangen von der Straße und schössen auf die Felder der Umgebung.
»Jetzt können wir uns auf den Weg machen«, sagte Grunthor und band die Zügel wieder los. Sie hatten das Stadttor schnell erreicht und ritten an der verwirrten Menge vorbei in Sepulvarta ein. Das Haus des Patriarchen war nicht schwer zu finden. Sie waren beide schon in der Basilika, der gewaltigen Kathedrale gewesen, die den Mittelpunkt des hiesigen Glaubens bildete. Das Gebäude, in dem das Oberhaupt der Kirche residierte, war auf einem Hügel in der Nähe der Stadtmauer an die Basilika angebaut. Es war ein wunderschönes Bauwerk aus Marmor, dessen gravierte Messingtüren von Soldaten in hellen Uniformen bewacht wurden.
Die beiden Männer näherten sich den Wachen und wurden sofort mit den Speerspitzen zurückgedrängt.
»Was ist euer Begehr?«
Ashe dachte kurz nach. Die Nachricht, dass der Herr der Cymrer in Sepulvarta sei, könnte sie und auch Rhapsody gefährden, wenn es sich herumsprach. Er wusste, wie schnell sich Geheimnisse im Wind verbreiteten.
»Sagt dem Patriarchen bitte, dass der Mann, der mit ihm auf dem Weg zum cymrischen Konzil vor drei Jahren zu Abend gegessen hat, nun um eine Audienz bittet.«
Die Wachen tauschten einen belustigten Blick aus und lachten.
Auch die Reisenden sahen einander an. Grunthor rollte mit den Schultern, als wolle er einen Krampf abschütteln. Ashe sah, dass er etwas aus dem massiven Gurt entfernte, den er über den Rücken geschlungen trug und der große Teile seiner hoch geschätzten Waffensammlung enthielt. Die Wachen lachten noch immer, als der große Ochsenziemer knallte und sich ihnen um die Kehle und die Pfeilspitzen wickelte. Er zurrte sie zusammen und fesselte sie mit seinem Lederband. Unter Anspannung seiner gesamten Bolg-Muskeln zerrte der Sergeant die beiden gefangenen Wachen zu sich heran und starrte auf sie herunter.
»Vielleicht habt ihr meinen Freund nicht ganz verstanden. Er hat bitte gesagt.«
»Wie üblich bist du ein Muster an Feinfühligkeit«, meinte Ashe. Gelassen sagte er zu den gefesselten Wachen: »Ist Gregor noch der Küster des Patriarchen?«
Die Wachen sahen ihn über die Peitsche hinweg an, die ihnen die Kehle abschnürte. »Ja«, röchelte einer der beiden.
Ashe ergriff das Ende des Ochsenziemers und band einen der Wachmänner los. Als dieser nach seinem Messer griff, packte Ashe ihn am Handgelenk und zog ihn zu sich heran. In höflichem Tonfall sagte er: »Frage den Küster ganz freundlich, ob er gewillt ist, zwei müde Reisende zu empfangen, von denen einer deinen Gefährten töten und verspeisen wird, wenn du nicht sofort mit Gregor zurückkehrst.« Er drückte den Soldaten auf die Tür des Hauses zu.
»Na, das war aber feinfühlig«, bemerkte Grunthor, als der Soldat losrannte. »Danke für die Lektion, Ashe. Auch wenn ich zugeben muss, dass es mir nicht gefällt, von dir zu hören, wen ich essen darf und wen nicht.« Er schaute den Wächter wie einen leckeren Braten an. »Ich steh eher auf Lirin.«
»Wer redet denn von dir?«, sagte Ashe verdrießlich. Er behielt die Tür im Auge und wartete auf die Rückkehr des Wächters. »Ich bin nicht nur ungeduldig, ich bin auch hungrig.«
Einen Augenblick später schwangen die reich verzierten Messingtüren auf, und ein großer, dünner Mann mittleren Alters trat heraus.
»Gwydion?«
Ashe und Grunthor sahen einander erstaunt an.
»Ja?«
»Bitte kommt mit. Beide.«
Grunthor ging hinüber zum Packpferd und band den Leichnam des Bogenschützen los.
»Bin mir sicher, sie hätten dich auch eingeladen, wenn sie gewusst hätten, wer du bist«, sagte er tröstend zu dem eingewickelten Leichnam und warf ihn sich über die Schulter.
Der Küster führte sie in das Rektorat. Die Sonnenhitze verschwand in dem Augenblick, in dem sie das Gebäude betraten. Die wenigen Fenster und die Marmorwände schlössen das Licht völlig aus, und das Innere des schönen Gebäudes wirkte dunkel und trostlos. Schwere Gobelins hingen an den Wänden, und fein gearbeitete Kerzenleuchter aus Messing trugen große Wachszylinder, die das einzige Licht spendeten. Der durchdringende Weihrauchduft konnte den scharfen Geruch von Schimmel und abgestandener Luft kaum übertünchen, und der Gestank der Leiche, die sie bei sich trugen, machte alles nur noch schlimmer.