Der Küster führte sie durch lange Korridore und an fahlen Männern in geistlichen Gewändern vorbei und hielt schließlich vor einer großen, beschnitzten Tür aus schwarzem Wal-nussholz an. Er öffnete sie und bedeutete den beiden Männern einzutreten.
In dem nur spärlich möblierten Versammlungszimmer, in dessen Boden zwischen zwei gewaltigen, erkalteten Räucherpfannen ein großer vergoldeter Stern eingelassen war, standen zwei Männer neben einem schweren Walnusstisch am oberen Ende einer kleinen Treppe. Der größere von beiden war der Patriarch von Sepulvarta, dessen muskulöse Schultern unter der silbernen Robe von Sorgen niedergedrückt zu sein schienen.
Der andere war der Bolg-König.
»Tut mir Leid, ich bin selbst gerade erst angekommen«, sagte Achmed zu Grunthor, als die beiden Männer das Zimmer betraten. Der Küster schloss die Tür hinter ihnen. »Hatte noch keine Gelegenheit, den Wachen zu sagen, dass du kommst.«
»Nix passiert«, sagte Grunthor, als er den König und den Patriarchen begrüßte. »Ashe hat einen ausgesucht, den er töten und auf der Straße zum Abendessen verspeisen wollte. Wäre ganz lustig geworden.«
Ashes Gesicht hatte jegliche Fassung verloren. Er starrte Achmed an. Grauen lag tief in seinen Augen; er traute sich kaum zu sprechen.
»Hast du ihren Herzschlag gehört?«, fragte er nervös. Der Dhrakier schüttelte den Kopf. »0 Götter«, flüsterte Ashe mit brechender Stimme. Der Patriarch seufzte und deutete auf den Tisch. »Setzt Euch«, sagte er zu den drei Männern. »Ihr seid weit gereist und müde an Körper und Geist. Sagt mir, was ich für Euch tun kann.« Er betrachtete den Leichnam auf Grunthors Rücken. »Legt ihn auf den Tisch.«
»Meine Frau ist außer Reichweite meiner Sinne geraten, Constantin«, sagte Ashe, während er sich auf den schweren Walnussstuhl setzte. »Sie wurde vor elf Tagen tief im Gwynwald in ihrem Wagen angegriffen. Es gibt keine Spur von ihr, und bevor ich die vereinigten Heere des Bündnisses losschicke, damit sie das Land durchkämmen, möchte ich mich an Euch wenden und den Spruch des Ringes der Weisheit hören. Ich fürchte, es könnte ihre Sicherheit gefährden, wenn ich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihr Verschwinden lenke, doch mit jedem Tag, der vergeht und an dem es kein Zeichen von ihr gibt, fürchte ich die Tatenlosigkeit mehr.«
Der Patriarch nickte; seine Stirn legte sich vor Besorgnis in Falten. »Wer ist das?«, fragte er und deutete auf den Leichnam.
»Ein Zeuge, den Grunthor aus dem brennenden Wald geholt hat. Anscheinend ein Bogenschütze. Er hat Dorndreher getötet, Anborns Leibsoldaten. Er befand sich in der Gesellschaft des Bastards, der die Falle für Rhapsody aufgestellt hatte. Anborn vermutet, dass dieser Unbekannte im Besitz eines alten Schwertes ist, das als Tysterisk bekannt ist. Seine Klinge ist durchtränkt vom reinen Element der Luft. Wie Kirsdarke, das Schwert, das ich trage und das dem Element des Wassers angehört, und die Tagessternfanfare, Rhapsodys Waffe des Sternenlichts und des reinen Feuers, ist Tysterisk eine Legende aus der alten Welt, die aber auf diesem Kontinent nicht geschichtlich belegt ist. Wenn dieser Mann wirklich im Besitz Tysterisks ist, muss er irgendwo anders drangekommen sein. Er ist kein Cymrer, denn dann würde ich ihn kennen.«
»Jemand kann doch von der Insel stammen und kein Cymrer sein, oder?«, fragte der Patriarch und schaute auf den eingewickelten Leichnam.
Achmed und Ashe tauschten einen raschen Blick aus. »Vermutlich«, sagte Ashe nach kurzem Zögern.
»Aber all jene aus Serendair, die nicht mit Gwylliam geflohen sind, genießen nicht die Unsterblichkeit der Cymrer. Sie sind zu näher gelegenen Orten ausgewandert und haben nicht wie die cymrischen Flotten den Nullmeridian überquert. Sie haben ihre normale Lebensspanne gehabt, zumindest steht es so in den historischen Texten. Das Schwert könnte die Insel zusammen mit einem Flüchtling verlassen haben und dann weitergegeben worden oder verloren gegangen sein, so wie es bei der Tagessternfanfare war, bevor Rhapsody sie entdeckte.«
Der Patriarch stand auf. »Wir werden sehen.«
Auch die anderen drei Männer erhoben sich, während der heilige Mann vorsichtig die Kordel entfernte, die das Tuch um den Leichnam hielt.
Als die Leinwand fortgezogen wurde, war der Verwesungsgestank stark, aber nicht so stark, wie er hätte sein können. Der Leichnam war im Rauch des brennenden Waldes wie Schinken oder Fisch geräuchert worden und das Fleisch bis zu den Knochen getrocknet. In der furchtbaren Hitze waren die meisten Körpersäfte verdampft.
»Er ist mit offenen Augen gestorben«, sagte der Patriarch wie zu sich selbst. »Gut. Er wird mehr gesehen haben.«
Plötzlich schaute er auf, als habe er den Geruch von Feuer im Wind erschnuppert, doch dann beugte er sich über den verwesenden Leichnam, sog tief die Luft ein und schloss die Augen. Er wiederholte diesen Vorgang, während die anderen Männer einander anschauten. Als er die Augen wieder aufschlug, hatten sie sich verengt.
»Könnt Ihr es riechen?«, fragte er leise.
»Was?«, wollte Achmed wissen.
Der Patriarch fuhr mit der Hand über die Leiche, als wolle er unsichtbare Luftströmungen vertreiben.
»Es ist da, schwach, aber eindeutig. Der Gestank. F’dor.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen im Versammlungsraum. Ashe war bei diesem Wort erzittert. Er sprach als Erster.
»Nein, Euer Gnaden«, sagte er schleppend.
Der Patriarch wandte sich von ihm ab und schaute Achmed an, dessen Körper sich fast unmerklich angespannt hatte.
»Neunzehn Jahre lang war mein Blut mit diesem Makel befleckt«, erklärte er. In seiner tiefen Stimme lag Gewissheit. »Ich erkenne den Gestank in jeder Form. Irgendwann ist dieser Mann von einem Dämonengeist berührt worden. Er war vermutlich kein Wirt, sondern stand nur unter dem Bann des F’dor.«
»Also streift noch ein lebender F’dor durch den Kontinent«, sagte Achmed. Er versuchte, diese Worte zu verinnerlichen und die ihm im Blut liegende Raserei zu besänftigen.
Der Hass auf den F’dor steckte jedem Dhrakier wie Nadeln in den Adern. »Seid Ihr Euch dessen sicher?«
»Ja. Zumindest gab es einen F’dor hier. Wo er sich augenblicklich aufhält, ist unbekannt, bis wir mit diesem Mann sprechen.«
Achmed wandte sich an Grunthor. »Geh zurück nach Ylorc«, sagte er knapp. »Bewache das Kind.«
Der Sergeant nickte und drehte sich zur Tür, doch die große, grobe Hand des Patriarchen packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.
»Warte noch, Sergeant«, sagte Constantin sanft. »Vielleicht brauche ich dich noch, bis wir alles gehört haben, was wir hören wollen. Danach kannst du gehen.«
»Stimmt es«, fragte Ashe verzweifelt und versuchte das Bild von Rhapsody in den Fängen eines solchen Dämons zu unterdrücken, »dass Ihr in das Reich zwischen Leben und Tod blicken könnt?«
Der Patriarch gab darauf keine Antwort, sondern fuhr mit der Hand über das sich zersetzende Fleisch und dachte nach.
»Könnt Ihr mit den Geistern der Toten reden, Euer Gnaden?«, fragte Ashe erneut, diesmal fordernder.
»Nein«, antwortete Constantin. »Ich kann nicht mit dem Geist eines Toten reden, sondern eher mit seinem Blut.« Während er sprach, schaute er zu Achmed hinüber. »Ich nehme an, Ihr wisst, dass ich noch vor einigen Jahren, gerechnet im Zeitmaß dieser Welt, einer der Gladiatoren in der Arena von Sorbold war«, sagte er. Seine donnernde Stimme war nun sanfter geworden. »Es war Rhapsody, die mich aus diesem Leben befreit und hinter den Schleier des Hoen gebracht hat, an den Ort zwischen Leben und Tod, den Ihr erwähnt habt, Gwydion – das Reich des Herrn und der Herrin Rowan. Ich weiß, dass auch Ihr in der Stunde höchster Not diesen Ort besucht habt, aber Ihr seid gegangen, als Ihr geheilt wart.
Ich bin freiwillig länger dort geblieben. Wenn meine Mutter nicht cymrischer Abstammung gewesen wäre, würde ich jetzt bestimmt nicht mehr leben. Ich bin jahrhundertelang an diesem schläfrigen Ort der Heilung und Weisheit geblieben, älter geworden, alt geworden, obwohl auf dieser Seite des Schleiers nur wenige Monate vergingen. Vieles, was ich über Blut und Heilen gelernt habe, habe ich an jenem Ort gelernt. Doch nicht alles. Einiges habe ich auch in der Arena gelernt. Ich bin mit einer besonderen Verbindung zum Blut geboren worden. In meiner Jugend machte mich diese Verbindung zu einem geschickten und gnadenlosen Mörder. Nun, im Alter, benutze ich diese Gabe zum Heilen, zum Schutz des Blutes, nicht zu seinem Vergießen.« Er fuhr mit dem Finger vorsichtig über die Wunden im Körper des Bogenschützen.