»In der Arena hörte ich das Blut singend den Tod meiner Gegner ankündigen. Manchmal erzählte es eine Geschichte, manchmal nicht. Vermutlich war es nicht der Beifall der Menge, sondern dieses Band, das mich antrieb. Es ist schon so lange her; ich weiß es nicht mehr genau.«
Er strich erneut über den Leichnam. »Dieser Mann ist ziemlich tot. Falls überhaupt, hat er nur noch sehr wenig Leben in seinem Blut. Vielleicht ist es nicht mehr als ein Summen oder Wispern, das ich aufspüren kann. Aber ich werde versuchen, es für Rhapsody zu finden, wenn Ihr das wünscht. Und ich werde versuchen, alle möglichen Hinweise auf die Herkunft und Absichten des Herrn dieses Schützen herauszufinden. Die Toten wissen mehr als die Lebenden, aber es ist nicht leicht, ihnen zuzuhören, wenn sie ihr Wissen mitteilen.«
Die drei Männer nickten stumm.
Der Patriarch entschuldigte sich und kehrte kurze Zeit später in einer weißen Robe zurück, die er gegen seine silberne eingetauscht hatte. Er trug ein Kultgerät in Tränenform, das als Lacrimatorium bekannt war, ferner ein Kanopengefäß, eine Urne, in der man die Asche der Toten beisetzte, sowie ein Räucherfass für Weihrauch. Gefolgt wurde er von zwei Messdienern, die weiße Leinentücher in den Händen hielten. Diese breiteten sie auf dem Tisch unter dem Leichnam aus.
»Was immer dieser Mann in seinem Leben getan hat, so hat er doch Anspruch auf dieselben Totenrituale wie jeder andere, der unter meinem Dach Beistand sucht«, sagte er. In seiner tiefen Stimme lag die eindeutige Weigerung, über dieses Thema zu streiten. Er wartete, bis die Diener die Räucherpfannen entzündet hatten, und bedeutete ihnen dann zu gehen. Sie schlössen die Tür hinter sich.
Als Stille in den Raum eingekehrt war, stellte der Patriarch das brennende Räucherfass auf den Tisch und entkorkte eine Kristallampulle, die ihm an einer Kette um den Hals hing. Es war eine kleine, geschliffene Phiole, die eine blutrote Flüssigkeit enthielt. Er rieb sich Augen und Ohren mit dem Inhalt der Phiole ein und verteilte ein wenig von ihr über dem Herzen der Leiche. Dann machte er das heilige Zeichen auf seinen eigenen Lippen.
»Du wirst mir sagen, wer die Frau entführt hat«, sagte er. Seine tiefe Stimme hatte den Klang eines Benenners oder eines Königs.
Danach öffnete er das Lacrimatorium und träufelte mit größter Vorsicht einen Tropfen der Flüssigkeit in die verwesenden Augenhöhlen der Leiche, wobei er ein leises Lied sang. Die Flüssigkeit in dem Lacrimatorium gab einen Laut von sich, der vertraut auf Achmeds Haut summte. Nach einem Moment erkannte er ihn als die Tränen des Ozeans, das lebende Wasser aus dem Meer. Er besaß selbst einen solchen Tropfen in einem Schutzbehälter, versteckt in den Tiefen des Loritoriums, wo das Erdenkind schlummerte.
Der Körper auf den Leinentüchern schien ein wenig anzuschwellen. Er sog die Flüssigkeit auf. Der Patriarch teilte seine Robe in Hüfthöhe. Aus einem Gürtel nahm er zwei Werkzeuge. Eines sah aus wie eine Polierrolle, und das andere war ein gekrümmtes Zeremonienmesser mit einer Platinklinge. Während die drei Männer zuschauten, schnitt Constantin mit festem Griff die Brust des Kadavers auf. Er zuckte nicht einmal zurück, als eine schwarze, zähe Flüssigkeit herausquoll und ihm die Hände benetzte. Er sägte die gesamte Brust des toten Mannes auf, schnitt durch Knochen und fast trockene Eingeweide und wischte die blutige Klinge sowie die Hände am Rande des Kanopengefäßes ab, wobei er jeden Tropfen auffing.
Dann legte er das Messer über die Beine des Toten, nahm die Rolle und drückte mit ihr gegen die Brust. So presste er Blutstropfen nach Blutstropfen aus dem steifen Fleisch.
Bei der Arbeit des Patriarchen verging erst eine Stunde, dann eine weitere. Immer mehr Blut träufelte er in das Kanopengefäß. Als er so viel gesammelt hatte, dass es gerade den Boden des Topfes bedeckte, hielt er ihn ans Ohr und lauschte.
Kein Geräusch war in dem höhlenartigen Raum zu hören. Alle Männer hielten den Atem an, um den Patriarchen nicht abzulenken.
Schließlich schaute Constantin auf.
»Es ist nur sehr wenig von der Seele dieses Mannes übrig geblieben«, sagte er ruhig und ehrerbietig. In seinen blauen Augen glitzerte es heftig. »Er hatte in seinem Leben nur eine Verbindung zu einem einzigen Herzen, das mit dem seinen im Gleichklang schlug. Dieser Mann war ein Zwilling. Kein normaler Zwilling, sondern ein Herzenszwilling, dessen Physiologie mit der seines Bruders so ähnlich war, dass sie denselben Puls hatten. Es ist dieses zerbrechliche Band, dünner als ein Spinnwebfaden, das einen winzigen Teil seiner Seele noch an diese Welt bindet. Wenn es diese Verbindung nicht gäbe, wäre er außerhalb unserer Reichweite im Nachleben oder wahrscheinlicher in der Gruft der Unterwelt.«
Achmed und Grunthor nickten, während Ashe reglos zuhörte. Er war unter der Anstrengung, ruhig zu bleiben, grau geworden.
»In den geklumpten Überresten des Blutes dieses Mannes kann ich nur ein einziges Wort hören.«
»Was ist das für ein Wort?«, fragte Ashe nervös.
»Seneschall«, antwortete der Patriarch.
»Seneschall?«, wiederholte der Herr der Cymrer. »Wie ein Regent oder der Schutzherr einer Burg?«
Der Patriarch zuckte die Achseln. »Manchmal bezeichnet es auch einen Richter oder jemanden, der von einem Herrscher mit der Oberaufsicht über das Gerichtswesen beauftragt ist«, erklärte er. »Gibt es so jemanden innerhalb des Bündnisses?«
»Nein«, sagte Ashe. »Für kurze Zeit war Tristan Steward Seneschall des Hauses der Erinnerung, doch das gibt es nicht mehr. Es ist zu Asche verbrannt und wird gerade wieder aufgebaut.«
Der Patriarch hielt die Hand hoch. »Psst«, sagte er plötzlich. »Da ist ein noch schwächeres Flüstern; vielleicht etwas, das nicht er selbst, sondern sein Zwillingsbruder gehört hat.«
Die drei Männer hielten wieder den Atem an.
Aus der Tiefe der zerschnittenen Brust des verwesenden Leichnams stieg ein winziger Dunst auf, wie eine schwache Rauchwolke. Die Worte waren so leise, dass sie fast unhörbar waren, doch sie wurden von einer Frau gesprochen – von einer Stimme, die sie alle kannten.
Bleib mir vom Leib, Michael. Ich sterbe vielleicht, aber ich werde dich mitnehmen.
»Michael?«, fragte Ashe. »Ich kenne niemanden namens Michael.« Er wandte sich an die Bolg, die einander ansahen. In ihren Blicken lag schierer Unglaube.
Der Patriarch hob die Hand und bat um Stille. Er nahm die Rolle, legte sie wieder an und presste weiteres Blut aus dem Toten. Wie ein Seufzen kamen die unendlich fernen, zerbrechlichen Worte hervor. Vielleicht nicht in aller Öffentlichkeit, Michael, Wind des Todes‹.
»Hrekin«, fluchte Grunthor leise.
»Wind des Todes?«, fragte Ashe. Entsetzen stieg in ihm auf. »Ist das nicht der furchtbare Soldat, dem sie in der alten Welt zu entkommen versuchte, als ihr beide ...«
»Ja«, sagte Achmed bündig.
»Und er hat sie in seiner Gewalt?«
»Anscheinend«, meinte der Dhrakier mit frostiger Stimme. Er wandte sich an den Patriarchen, dessen weiße Robe nun mit dunklem Blut bespritzt war. »Wo? Frag ihn nach dem Ort.«
Die Männer warteten in ängstlichem Schweigen, als der Patriarch die Frage stellte. Er hielt das Kanopengefäß ans Ohr, doch die Stimme des Blutes war so schwach geworden, dass er sie nicht mehr verstehen konnte. Schließlich schaute der heilige Mann die Besucher an. Er sah, wie das Grauen in ihnen brodelte, hob das Gefäß an die Lippen und trank. Der Ring der Weisheit an seiner Hand glühte hell dabei.
Er packte die Tischplatte und kämpfte gegen die Übelkeit und den Schock, die ihn in ihren Fängen hielten. Sein Gesicht wurde so weiß wie die aufwärts gerichteten Ränder seines Bartes. Constantin legte sich die Hände über die Ohren und versuchte den schwachen Laut festzuhalten.